Haus Ohne Hüter
an der Gabelung, von der aus man hinabsehen konnte auf die sieche Brer, den Barockkirchturm und das barocke blaue Schwein. Er spielte jungenhaft mit der Leica, die noch auf seiner Brust baumelte, und sagte, was er sagen mußte: »Ist das nicht entzückend?«
»Ja«, sagte sie, »wie lange werden Sie noch brauchen bis zum Schloß?«
»Eine halbe Stunde«, sagte er, »kennen Sie Brernich?«
»Ich war ein paarmal dort.«
»Merkwürdig, daß ich Ihnen noch nicht begegnet bin, im letzten Monat war
»Ich war seit einem Jahr nicht mehr da.«
»Oh«, sagte er, »ich bin erst zwei Monate hier.«
»Wo waren Sie früher?«
»Ich habe studiert«, sagte er, »ich mußte ganz umlernen.«
»Sie waren lange Soldat?«
»Ja«, sagte er, »vier Jahre lang, und dann habe ich sechs Jahre gebüffelt, um einen Beruf zu bekommen, und nun möchte ich langsam anfangen zu leben.«
»Leben«, sagte sie, »Sie leben doch sicher schon achtundzwanzig Jahre.«
»Genau zweiunddreißig«, sagte er lächelnd, »vielen Dank für die Schmeichelei.«
»Keine Schmeichelei, sondern Neugierde. Ich wußte, daß Sie ganz gern älter aussehen möchten.«
»Für Sie«, sagte er, »möchte ich zwei Jahre älter sein.«
»Wozu«, sagte sie kalt, und sie blickte, von Langeweile erfüllt, auf das blaue Schwein, das seine frisch gekalkte, frisch bemalte bunte Barockfassade in die Sonne hielt. »Dann wäre ich vier Jahre älter als Sie.«
»Komplizierte Schmeichelei«, sagte sie müde, »aber Sie irren sich, ich bin
genau siebenunddreißig Jahre alt.«
So mochten sich Kriminalbeamte fühlen, die einen kleinen Ladendieb verhören, nicht die Untersuchungsrichter, die den großen Mörder einkreisen.
»Meine Schmeichelei«, sagte er, »war ganz unbewußt, Sie sehen tatsächlich jünger aus.«
»Ich weiß«, sagte sie.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir weiterfahren?«
»Nein«, sagte sie, »aber halten Sie nicht an der Kirche und nicht am blauen Schwein.«
Er sah sie lächelnd an, und sie schwieg, bis er die Haarnadelkurve genommen hatte und langsam durch den kleinen Ort gefahren war.
»Nette Anekdote«, sagte er, »die vom blauen Schwein.«
»Reizend«, sagte sie.
Der Werbefilm für die Reisegesellschaft lief weiter: Wiesen, Kühe Ȭ und der sauber rasierte, achtklassige Schauspieler, der Werbeleiter, der früher einmal Schauspieler gewesen war, als Regisseur, und sie, sie war die Diva, die man
kostenlos mit. Und an der Kamera stand ein Amateur, der in einem Lehrgang
als begabt aufgefallen war. Es gelang ihr nicht, in die anderen Ebenen zu springen: weder der eine Film, der die Erinnerung enthielt, noch der andere, der im Archiv verstaubte und die Fortsetzung dessen, was jetzt Erinnerung war, enthielt: Leben ohne Ballast, Kinder und eine Redaktion; Getränke Ȭ erfri Ȭ schend, kalt und bunt, und Albert, der unermüdliche Freund; ein Film ohne Glum, ohne Bolda Ȭ mit den nie gezeugten, nie geborenen Abc Ȭ Schützen der Jahre 1950 bis 1953. Krampfhaft suchte sie Rai in der Erinnerung, um ihren Haß zu schüren, aber es kamen nur blasse Bilder herauf, erstarrte Klischees: italienische Dörfer, die wie Dörfer auf Prospekten aussahen, Rai darin wie ein verirrter Tourist. Müde Phantasie — die Gegenwart lähmte alles. Plötzlich lag Gäselers Arm auf ihrer Schulter, und sie sagte ruhig: »Tun Sie den Arm weg!« Gäseler nahm den Arm zurück, und sie wartete vergebens auf den Haß: Absalom Billig, auf Zementboden zertrampelt; Blut über grobem Beton Ȭ und Rai, einem Befehl geopfert, einem Prinzip dargebracht, Prestigetod Ȭ abgeknallt, unwiederbringlich. Rai kam nicht, und die Erinnerung schwieg. Haß kam nicht, nur Gähnen, und wieder lag die Hand auf ihrer Schulter, wieder sagte sie ruhig: »Tun Sie die Hand weg!«, und er tat sie weg. Nannte er das anfangen zu leben, Fummelei am Steuer, Küsse, am Waldesrand getauscht, während ein Rehlein, versteckt, aber schmunzelnd zusah: schmunzelndes Rehlein, vom Amateurkameramann geschickt fotografiert.
»Tun Sie es nicht mehr«, sagte sie, »lassen Sie die Hand endgültig weg, es
langweilt mich so. Erzählen Sie, wo waren Sie im Krieg?«
»Oh«, sagte er, »ich denke nicht oft daran. Ich versuche es zu vergessen, und es gelingt mir. Es ist vorbei«, sagte er. »Aber wo Sie waren, wissen Sie wohl noch.«
»Fast überall«, sagte er. »Im Westen, im Osten, im Süden Ȭ nur im Norden nicht. Zuletzt war ich in Erwins Armee.«
»In wessen Armee?«
»Erwin«, sagte er, »kennen Sie Erwin Rommel
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