Haus Ohne Hüter
Limonade, in der Eisklümpchen schwammen, und er haßte die albernen Männer und Weiber, die ihn süß und entzückend fanden und die Abende verdarben. Er warf die Lippen auf, klappte den Deckel des Malkastens hoch, nahm den langen, dicken Pinsel, tunkte ihn ins Wasser und wälzte ihn lange und ausgiebig in Schwarz. Draußen hielt ein Auto, und er hörte sofort, daß es nicht Alberts Wagen war, sondern der Wagen des Arztes; er legte den Pinsel aus der Hand, wartete, bis es klingelte, und lief in die Diele, denn nun kam, was immer kam und ihn immer wieder erregte. Die Großmutter stürzte aus ihrem Zimmer, brüllte: »Doktor, guter Doktor, schon wieder Blut im Urin«, und der schüchterne, kleine, schwarzhaarige Doktor lächelte, schob die Großmutter mit sanftem Nachdruck in ihr Zimmer, nahm das Ledertäschchen aus dem Rock, das so groß war wie das Zigarrenetui des Tischlermeisters in Brielachs Haus. Vorsichtig knöpfte er der Großmutter, die sich auf den Sessel gesetzt
schüttelnd ihren schneeweißen, fleischigen Arm, der wirklich so weiß war
wie Onkel Alberts Hemden, und jedesmal murmelte der Arzt: »Wie ein junges Mädchen, wie ein junges Mädchen« Ȭ und die Großmutter lächelte und starrte triumphierend auf ihre Urinflasche, die entweder mitten auf dem Tisch oder auf dem Teewagen stand.
Martin durfte immer die Ampulle halten, was die Mutter nie fertigbrachte.
»Ich werd ȇ schon krank, wenn ich es sehe«, und wenn der Arzt den Hals der Ampulle durchgesägt hatte, hielt Martin die Ampulle ganz ruhig, so daß der Doktor sagen konnte, was er bei dieser Gelegenheit sagen mußte:
»Tapferer, kleiner Kerl« Ȭ und Martin beobachtete genau, wie der schmale,
kleine Kolibrischnabel sich in die blasse Flüssigkeit schob, wie der Arzt den Kolben nach hinten zog, die Spritze sich füllte, sich vollsog mit weißlichem Nichts, dessen Wirkung so ungeheuerlich war. Unendliches Glück, Sanftmut und Schönheit auf Großmutters Gesicht. Undnoch immer wurde ihm weder schlecht noch spürte er die geringste Angst, wenn der Arzt den Kolibrischnabel ganz plötzlich in den Arm der Großmutter stieß Ȭ es war fast wie ein Biß Ȭ , und die weiße, zarte Haut schob sich ein wenig vor dabei, wie wenn ein Vogel in eine Pelle pickte, und die Großmutter blickte unverwandt seitlich auf die untere Etage des Teewagens, wo Blut im Urin stand, während der Arzt den Kolben sachte nach unten drückte und das unendliche Glück in die Großmutter hineinspritzte Ȭ wieder ein Ruck, wenn er den Schnabel aus Großmutters Arm zog, und der seltsame, so gespenstische, so unheimliche Glücksseufzer der Großmutter. Er blieb dann bei ihr, wenn der Arzt gegangen war, obwohl er Angst hatte; die Neugierde war stärker als die Angst; hier geschah etwas, was so schrecklich war, so schrecklich wie das, was Grebhake und Wolters im Gebüsch getan hatten, und so schrecklich wie das Wort, das Brielachs Mutter im Keller zum Bäcker gesagt hatte — schrecklich, aber auch schön und geheimnisvoll. Nie sonst wäre er freiwillig bei der Großmutter geblieben, aber wenn sie die Spritze bekam, blieb er: Sie lag dann auf ihrem Bett, und es strömte von innen über sie, helle Welle, die sie jung machte, glücklich und unglücklich, denn sie seufzte tief und weinte zugleich, blühend wurde ihr Gesicht, fast so glatt und schön wie das Gesicht der Mutter, es glättete sich, die Augen leuchteten, Glück breitete sich aus und
nen weiterströmten, und er liebte die Großmutter plötzlich, liebte ihr
großes, breites, so blühendes Gesicht, das ihm sonst Schrecken einflößte — und er wußte, was er tun würde, wenn er einmal groß war und unglücklich war: sich in den Arm picken lassen von dem kleinen Kolibri, der Glück in die Großmutter hineinschob, winzige Menge farblosen Nichts. Er ekelte sich vor nichts mehr, nicht einmal mehr vor der Flasche, die auf der untersten Etage des Teewagens stand.
Dann legte er die Hand auf das Gesicht der Großmutter, er ließ sie erst auf
der linken Wange ruhen, legte sie auf die rechte, auf die Stirn, und hielt sie lange über den Mund der Großmutter, um den warmen und ruhigen Atem zu spüren, aber zuletzt ließ er seine Hand lange auf Großmutters Wange ruhen, und er haßte sie nicht mehr; wunderschönes Gesicht, von einem halben Fin Ȭ gerhut voll blassen Nichts so verändert. Manchmal schlief die Großmutter noch gar nicht, und sie sagte mit geschlossenen Augen sanft: »Guter Junge«, und er schämte sich, weil er sie
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