Haus Ohne Hüter
Schrei der Schaffnerin und Leo mit seinem Affengesicht. Verfluchter Bengel Ȭ Tür zu, und Tage später schlug ihn Leo mit der Knipszange ganz kurz und hart auf den Kopf und sagte: »Freundchen, ich werde dir beibringen, was Anstand ist. Kannst du nicht anklopfen?« Später war die Tür immer abgeschlossen, aber wahrscheinlich vollzog sich nichts anderes, wenn die Mutter zu Leo hinüberging. Vereinigung war ein schönes Wort für etwas, was er häßlich fand Ȭ aber vielleicht ging es bei den Leuten, die Geld hatten, wirklich anders zu. Vielleicht. Das Wort, das von Onkel Leo stammte, war häßlich, aber es paßte besser. Martins Erschrecken zeigte an, wie tief das Wasser unter der Eisschicht stand. Unendlich tief schien es zu sein und kalt, und niemand konnte einen vor dem Einbrechen bewahren. Es war nicht nur das Geld und der Unterschied zwischen dem, was bei Martin immer im Eisschrank bereitstand, und dem, was er täglich einkaufen mußte, auf die Pfennige achtend: Brot, Margarine, Kartoffeln und für den dreckigen Leo ein Ei, selten einmal eins für Wilma, ihn oder die Mutter. Es war der Unterschied zwischen Onkel Albert und Leo, der Unterschied zwischen Martins Er Ȭ schrecken über das Wort und seinem leichten Zusammenzucken, das Ekel darüber bedeutete, daß das Wort schon in die Mutter eingedrungen war.
Der Unterschied zwischen Martins Mutter und seiner Mutter war eigentlich nicht so groß, er war bereit anzunehmen, daß nur das Geld sie unterscheide. Und vielleicht, vielleicht würde das Eis nie einbrechen.
Auch in der Schule bewegte er sich auf diesem Eis: Der Kaplan zum Beispiel war fast aus dem Beichtstuhl gefallen, als Martin in der Beichte von dem Wort gesprochen hatte, das seine Mutter zum Bäcker gesagt hatte, und Martin hatte fünf Vaterunser und
fünf Ave Maria extra beten müssen wegen dieses Wortes, das er doch nur
gehört hatte, sanfte und freundliche Stimme des Kaplans, der von der unbefleckten Jungfrau sprach, Onkel Ȭ Will Ȭ Stimme, die von der heiligmachenden Gnade sprach, von Reinheit des Herzens und einer keuschen Seele: wunderschöne Stimme und das gute Gesicht des Kaplans, der durchgesetzt hatte, daß seine Mutter Geld für die Erstkommunion bekam, obwohl sie unmoralisch war. Aber kannte der Kaplan das saubere, rote, nach Rasierwasser duftende Affengesicht von Onkel Leo, kein Gesicht einer keuschen Seele?
Er ging auf Eis über einer Wasserfläche, deren Tiefe sich erst herausstellen
würde, wenn das Eis einbrach. Auch die Mutter war anders geworden, sie hatte das Won ausgesprochen, aber vorher schon war sie anders geworden, hart: Er hatte sie sanft in Erinnerung, freundlich und still, wie sie Onkel Erichs Brust in der Nacht geduldig mit Essigtüchern behandelt, wie sie Gert zugelächelt, wie sie mit Karl gesprochen hatte, bevor »es« weggemacht worden war. Hart war ihr Gesicht im Krankenhaus geworden.
Das Eis war stellenweise am Rande schon eingebrochen, an ungefährlichen seichten Stellen, wo es leicht wieder zufrieren konnte. Wills Nachtschweißgeschichte zum Beispiel brachte ihn nur zum Lachen. Er lächelte darüber, wie er über Wills Buch Ȭ und Filmgespräche lachte: traumhaftes Gemurmel, Wasserbläschen aus dem Munde eines verwunschenen Geistes, die vom Grunde des Wassers her zu ihm aufstiegen und bis an die Eisdecke drangen, spielerische Effekte ergaben, ähnlich denen, die der Springbrunnen im Eissalon zustande brachte. Nah war der Preis der Margarine, der gerade wieder anstieg, nah war die Kalkulation, die er für die Mutter machen mußte. Mutter konnte nicht rechnen, konnte nicht sparen, und die gesamte Haushaltskalkulation war seine Sache. Nah war das nackte Gesicht von Onkel Leo, der Onkel Ȭ Leo Ȭ Worte gebrauchte, gegen die Gerts Erbschaft »Scheiße« ein mildes und sanftes Wort war. Nah war die Fotografie des Vaters, auf den er sich zuwachsen fühlte, nah war das Gesicht der Mutter, das härter, deren Mund dünner wurde und sich immer häufiger der Onkel Ȭ Leo Ȭ Worte bediente, die immer häufiger mit Leo tanzen ging, Onkel Ȭ Leo Ȭ Lieder sang, was in den Filmen ganz bestimmte Frauen taten, Frauen
Schön war das Kino, gut war es dort, warm. Niemand sah einen, niemand konnte mit einem sprechen, und man konnte, was man sonst nicht konnte: vergessen.
Was der Lehrer sagte, war wie das, was der Kaplan sagte: Es perlte fremd und
spielerisch an die Eisdecke heran, auf der er einherging, aber es drang nicht bis zu ihm durch. Die Eier wurden teurer, das Brot
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