Haus Ohne Hüter
gewesen war, schrie sie, wenn sie ihn nur sah. Entsetzliches Gebrüll aber stieß sie aus, wenn er drohend seine schwere Nickelknipszange in die Höhe hob, um sie einzuschüchtern, dann brüllte sie und kroch auf Heinrich zu, klammerte sich an ihn und war erst zu beruhigen, wenn Leo weggegangen war und er ihr oft, oft zugeflüstert hatte: »Leo weg, Leo weg.« Aber auch dann weinte sie noch, und Heinrichs Hände wurden naß von ihren Tränen. Nachmittags war er meistens mit ihr allein, und dann war sie ruhig und weinte nie, und schön war es an den Abenden, wenn die Mutter mit Leo tanzen ging: Dann sagte er Martin Bescheid, der nur kommen wollte, wenn Leo weg war Ȭ er hatte solche Angst vor Leo wie Wilma Ȭ , und sie badeten das Kind, gaben ihm zu essen und spielten mit ihm. Oder er konnte Wilma in Martins Garten abstellen, und sie konnten Fußball spielen. Abends lag er dann allein mit Wilma im Bett, murmelte die Abendgebete vor sich hin und dachte an die Onkel. Wilma, den Daumen im Mund, ganz sauber, schlief dann neben ihm, und er brachte sie erst in ihr Bettchen, wenn er selbst einschlafen wollte. Nebenan vereinigte sich die Mutter mit Leo; er hörte nichts, wußte aber, was geschah.
Wenn er überlegte, welcher Onkel ihm der liebste gewesen war, schwankte er
immer zwischen Karl und Gert. Karl war freundlich und pedantisch, er war der »Neues Ȭ Leben« Ȭ Karl, der »Nachschlag« Ȭ Karl, der Karl, dessen Wappengeruch der Geruch der Suppe für städtische Angestellte war, Karl, von dem die Segeltucnhülle für sein Kochgeschirr übriggeblieben war, die Wilma jetzt als Spielzeugtasche benutzte. Karl hatte aber auch schenken können wie Gert, der abends lachend nach Hause kam und sein ganzes Handwerkszeug in einem Marmeladeneimer mit sich trug. Kellen und Spachteln und die Fugenmesser, eine Wasserwaage und seinen Tagesverdienst, den er sich in Naturalien auszahlen ließ, hatte er großzügig auf den Tisch gelegt: Margarine und Brot, Tabak, Fleisch und Mehl, und einige Male das, was damals so kostbar, so selten gewesen war, etwas kleines Weißes, wunderbar Schmeckendes: ein Ei. Gelacht hatte die Mutter am meisten in der Gert Ȭ Zeit. Gert war jung gewesen, dunkelhaarig, und hatte das Mensch Ȭ ärgere Ȭ dich Ȭ nicht Ȭ und das Fang Ȭ den Ȭ Hut Ȭ Spiel nicht verachtet.
Bett lachte, wo sie mit Gert schlief, und dieses Lachen hatte ihm die Mutter
nicht unsympathisch gemacht wie das Kichern, das sie bei Karl ausstieß. Gert war in der Erinnerung so gut, daß selbst die Vorstellung, daß er sich mit der Mutter vereinigt hatte, ihn nicht abstoßend machte. Gert trug noch eine dunkelgrüne Stelle am Ärmel seines Waffenrockes, wo der Obergefreiten Ȭ winkel gesessen hatte, und abends hatte Gert noch einen Handel mit Gips und Zement betrieben, die er pfundweise verkaufte; er schöpfte Gips und Zement aus Papiersäcken, wie man jetzt Mehl aus Säcken schöpfte, pfundweise mit Kellen. Karl war ganz anders gewesen, aber auch nett. Karl war der einzige Onkel, der in die Kirche gegangen war. Karl hatte ihn mitgenommen, ihm die Liturgie erklärt, die Gebete, und Karl rückte abends nach dem Essen seine Brille zurecht und fing von seinem »neuen Leben« an. Karl ging zwar nie beichten, ging nie kommunizieren, aber Karl ging in die Kirche und wußte über alles Bescheid. Karl war nachdenklich, pedantisch, aber freundlich und konnte schenken, Bonbons und Spielzeug; und wenn er sagte, »wir werden ein neues Leben anfangen«, sagte er hinterher, »ich will wieder Ordnung in unser Leben bringen, Wilma, Ordnung«, und zu dieser Ordnung gehörte, daß Heinrich nicht Onkel, sondern Vater zu ihm sagen sollte. Erich Ȭ merkwürdig riechende Tees, in Essig getränkte lauwarme Tücher und das Feuerzeug, das immer noch funktionierte. Erich war in Sachsen geblieben. Gert war eines Tages nicht wiedergekommen, und sie erfuhren lange nichts von ihm, bis er nach Monaten aus München schrieb: »Ich mußte weg, ich komme nicht wieder. Es war schön da, ich schenke dir die Armbanduhr.« Der Geruch nassen Gipses blieb in der Erinnerung, und das Wort »Scheiße« blieb in Mutters Wortschatz von Gert zurück. Und Karl war weggegangen, weil »es« weggemacht worden war. Kein »neues Leben« hatte angefangen, und manchmal sah er jetzt Karl in der Kirche. Karl hatte eine Frau und ein Kind; sonntags ging er mit dem kleinen Jungen an der Hand spazieren, der so alt war wie Wilma. Aber Karl schien sich seiner, schien sich auch der Mutter nicht mehr zu
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