Haus Ohne Hüter
aussah. Er durchwanderte die Länder, indem er ihre Namen leise vor sich hinmurmelte: Frankreich, Deutschland, Polen, Rußland, Ukraine, Kalinowka, und er weinte später im Dunkeln und flehte um den Traum, der ihm nie gewährt wurde. Onkel Albert war dabeigewesen, als der Vater fiel, und er erzählte es manchmal, von Gäseler und dem Dorf und dem Krieg, den er Scheißkrieg nannte, aber alles nützte nichts Ȭ auch dadurch kam der Vater nicht so in den Traum, wie er es wünschte. Die Erde, in der der Vater ruhte, stellte er sich vor wie Boldas Haar. Tintige Finsternis, die Vaters Gestalt verschluckte, ihn festhielt wie klebriger, frischer Asphalt, ihn so festhielt, daß er nicht in die Träume kommen konnte. Das Äußerste, was er erreichen konnte, war, daß das Gesicht des Vaters weinte, aber auch weinend kam er nicht in den Traum. Und er konnte das Gesicht des Vaters im Dunkeln nur bei sich haben, wenn er das Bild in Großmutters Zimmer in Ruhe hatte betrachten können, und das geschah nur, wenn Blut im Urin gespielt, der Arzt angerufen und die Großmutter mit Glück gespritzt wurde.
Er sagte alle Gebete, die er kannte, und hängte an jedes Gebet die Bitte: Schicke mir den Vater in den Traum... Aber als der Vater wirklich kam, war er anders, als er ihn sich gewünscht hatte: Er saß unter einem großen Baum, die Hände vors Gesicht geschlagen, und obwohl die Hände vor dem Gesicht lagen, wußte er, daß es der Vater war. Der Vater schien zu warten auf etwas, worauf er schon unendlich lange wartete, er sah aus wie jemand, der seit Millionen Jahren dort saß und sein Gesicht bedeckte, weil es so traurig war, und wenn der Vater die Hände vom Gesicht nahm, erschrak er jedesmal, obwohl er wußte, was dann kam. Der Vater hatte kein Gesicht, und es
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schien, als wollte er sagen: Jetzt weißt du ȇ s. Ȭ Vielleicht wartete der Vater unter diesem Baum auf sein Gesicht. Schwarz war die Erde wie Boldas Haar, und der Vater war allein und ohne Gesicht, und obwohl er kein Gesicht hatte, sah er unendlich traurig und müde aus, und wenn er anfing zu sprechen, erwartete er immer, daß der Vater Gäseler sagen würde, aber der Vater sagte nie den Namen, nie ein Wort von Gäseler. Der heftige Lachanfall eines albernen Weibes nebenan weckte ihn, und er weinte seine Wut, seinen Haß und seine Enttäuschung ins Kissen hinein, weil der Traum vom Vater nun plötzlich abgeschnitten war: Vielleicht hätte er plötzlich ein Gesicht bekommen und gesprochen.
Er weinte heftig und lange, bis das Lachen nebenan ferner klang, immer
ferner, und im nächsten Traum sah er nun die blonde Frau in der Küche anstatt Eier und Tomaten riesige Ampullen zersägen, Glasballons, deren Inhalt der lächelnde Doktor in riesige Spritzen hineinsog.
Bolda rutschte langsam heran, mit schneeweißem Gesicht und kohlefarbenem Haar, auf einer Seifenwolke rudernd, ganz glatt im Gesicht, so glatt wie die Großmutter nach der Spritze, und Bolda sang schön, wunderschön, schöner noch als Frau Borussiak sang; so ruderte Bolda in den Himmel hinauf, mit den Zähnen festhaltend, was wie eine Eintrittskarte in den Himmel aussah: das Kinoprogramm mit dem Bild der heiligen Maria Goretti.
Aber der Vater, auf den er auch im Traum noch wartete, kam nicht wieder zurück, endgültig war er verdrängt durch albernes Lachen aus dem Nebenzimmer Ȭ und die Eierzerschneiderin verdrängte Bolda, schwamm durch die Luft wie durch Wasser und rief: süß, süß, süß, bis die dunkle Orgelstimme der Großmutter aus dem Hintergrund kam, wildes dunkles Gebrüll: Blut im Urin.
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Langsam wurde Heinrich klar, wie es war: Es war das Gefühl, auf Eis zu gehen, auf dünnem Eis über eine Wasserfläche, deren Tiefe unbekannt ist. Das Eis war noch nie eingebrochen, und es gab Hilfe, alle standen lächelnd
an den Seiten, bereit hinzuzuspringen, wenn es einbrach: Aber dieser
daran, daß es einbrechen würde und die Tiefe des Wassers unbekannt blieb.
Der erste Riß in diesem Eis hatte sich gezeigt, ein ungefährlicher Knacks noch, als er Martins Schrecken über das Wort sah, das seine Mutter zum Bäcker gesagt hatte, es war ein häßliches Wort für die Vereinigung der Männer mit den Frauen, aber er fand überhaupt Vereinigung ein viel zu schönes Wort für einen Vorgang, den er nicht sehr schön fand: knallrote Gesichter, Gestöhn: Als Leo noch nicht sein Onkel war, hatte er ihn mit der Schaffnerin gesehen: als er die Suppe hinüberbringen wollte und nicht anklopfte: der wilde, entsetzliche
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