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Haus Ohne Hüter

Haus Ohne Hüter

Titel: Haus Ohne Hüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böl
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sehen, daß er da war und mit ihm frühstücken würde. »Entschuldige«, sagte Albert, »daß ich gestern abend nicht da war, als du aus der Schule kamst, ich mußte einfach weg. Sie riefen mich an. Komm, du mußt aufstehn.« Er erschrak, als der Junge sich aus dem Bett geschwungen und hingestellt hatte: Er war so groß wie alles, an dem Nella vorbeiträumen wollte. Er ließ ihn allein und ging in die Küche zurück, um die Eier zu kochen und die Brote zurechtzumachen. In Nellas Zimmer war es still, und für einen Augenblick verstand er sie, denn auch er hatte Angst, weil der Junge schon so groß war und offenbar in einer ganz anderen Welt lebte als sie.

8

    Das Haus verfiel immer mehr, obwohl genügend Geld da war, es instand zu halten. Aber niemand kümmerte sich darum. Das Dach war defekt, und Glum klagte oft darüber, daß der große dunkle Flecken an seiner Zimmerdecke sich vergrößere. Wenn es heftig regnete, tropfte es sogar von seiner Decke herunter, und sie gingen dann Ȭ von plötzlicher Aktivität ergriffen Ȭ auf den Speicher, um eine Schüssel unter die defekte Stelle zu setzen. Dann hatte Glum eine Weile Ruhe. Die Dauer dieser Ruhe hing von der Größe der Schüssel und der Heftigkeit des Regens ab: War die Schüssel flach und regnete es heftig und lange, dann war es mit Glums Ruhe bald vorüber, denn die Schüssel lief über, und der dunkle Flecken an Glums Decke vergrößerte sich. Dann wurde eine größere Schüssel unter die defekte Stelle gesetzt. Doch bald zeigten sich auch in Boldas Zimmer diese Flecken, auch an der Decke des leerstehenden Zimmers, in dem der Großvater gewohnt hatte. Und im Badezimmer fiel eines Tages ein großes Stück Putz herunter. Bolda
    sammelte den Dreck auf, und Glum mischte ein merkwürdiges Zeug aus
    Nella aber war stolz auf ihre Aktivität, als sie in die Stadt fuhr, um zehn große Zinkwannen zu kaufen, die auf dem Speicher verteilt wurden und fast die ganze Bodenfläche bedeckten. »Jetzt kann so was nicht mehr passieren«, sagte sie, und sie gab für die Wannen ungefähr soviel Geld aus, wie eine vernünftige Dachreparatur gekostet hätte, und wenn es regnete, hörten sie von oben das seltsame melodische Tropfen des Regens, der in den großen, hohlen Wannen ein dunkles, warnendes Geräusch hervorrief. Trotzdem mußte Glum immer öfter sein Gemisch aus Gips, Sand und Kalk an die Decken schmieren. Er beschmutzte dabei die Treppen, seine Kleider; und Martin, der ihm Hilfestellung leistete, war auch von oben bis unten verschmiert, und seine Kleider mußten in die Reinigungsanstalt gegeben werden. Von Zeit zu Zeit stieg die Großmutter auf den Speicher, besichtigte die Schäden. Sie wand sich zwischen den Zinkwannen durch, und ihre schweren Seidenröcke verursachten an den Rändern der Wannen ein helles, klingendes Schaben. Sie setzte dann ihre Brille auf, und ihr ganzes Wesen strahlte Umsicht und Ver Ȭ antwortungsgefühl aus. Immer wieder beschloß sie dann, in alten Ordnern nach der Adresse des Dachdeckers zu suchen, der früher für sie gearbeitet hatte, und wirklich sah man sie tagelang in ihrem Zimmer von Ordnern und Schnellheftern umgeben, sie blätterte in alten Geschäftspapieren, verlor sich im Studium von Kontoauszügen. Aber die Adresse des Dachdeckers wurde nie gefunden, obwohl sie Ordner um Ordner aus den Archiven der Fabrik kommen ließ. Ein Jahrgang nach dem anderen wurde mit dem kleinen, roten Lieferwagen herübergebracht, bis ihr Zimmer ganz mit Akten gefüllt war. Ruhe aber gab sie erst, wenn sie endlich beim ersten Jahrgang angekommen war: modrigen Kopierbüchern aus dem Jahre 1913.
    Dann holte sie Martin zu sich herein, und der Junge mußte ihr stundenlang zuhören, sich in die Geheimnisse der aromatischen Konfitüre einführen lassen, die sein Großvater erfunden und in die ganze Welt verkauft hatte. Der erste Weltkrieg hatte dem jungen Unternehmen einen ungeheuren Aufschwung gebracht, und die Großmutter pflegte zum Abschluß ihrer Lektion dem Jungen graphische Darstellungen der Produktionsziffern zu zei Ȭ gen, mit Tusche säuberlich gezeichnete Linien, die wie Querschnitte von Gebirgen aussahen und aus denen eindeutig zu ersehen war, daß
    Das Jahr 1917 »Das Jahr, in dem deine Mutter geboren wurde, mein liebes Kind«, das Jahr 1917 war ein einsamer Gipfel Ȭ eine Höhe, die bis 1941 unerreicht blieb. Doch fiel dem Jungen, der notgedrungen die Tafeln betrachtete, auf, daß ein rapider Anstieg schon mit dem Jahre 1933 begann. Er fragte die

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