Haus Ohne Hüter
Ebene zu leben, in jenem Leben, das hätte gelebt werden können, aber nicht gelebt worden war. Auf dem Bauernhof von Leens Eltern in Irland und in der Druckerei eines kleinen Städtchens in der Nachbarschaft entwarf er Geburtsanzeigen, Todesanzeigen, versah Broschüren mit Titeln. Dauernd waren Briefe von Nella gekommen, die ihn anflehte, zurückzukommen, und er hatte Leens Ruf: »Geh nach Irland« nicht befolgt und war nach Deutschland gekommen, um Etiketten für Marmeladeneimer zu entwerfen und Rai fallen und sterben zu sehen, machtlos gegen die gewaltige Stupidität der Armee. Er dachte nicht gern an Rais Tod. Sein Haß gegen Gäseler war im Laufe der Jahre verschwunden, versickert, und er dachte nur noch selten an ihn. Und es war sinnlos, sich auszumalen, was gekommen wäre, wenn Rai den Krieg überlebt hätte; hier versagte seine Phantasie, weil er die Endgültigkeit von Rais Tod erlebt hatte: erstickt am eigenen Blut, an zerfetzten Sehnenstücken, und die zitternde Hand, die langsam das Kreuzzeichen schlug. Zwar hatte seine
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Wut gereicht, Gäseler zu ohrfeigen, aber selbst im Gefängnis war der Haß
gegen Gäseler nicht größer geworden, nur die Angst, daß Nella nicht schrieb und er nicht erfuhr, ob sie das Kind bekommen hatte.
Er starrte auf die Landkarte an der Wand; die Verbreitung von Wocbenend im
Heim war durch rote Fähnchen markiert, es waren unzählige rote Fähnchen, so viele, daß man auf der Landkarte fast nichts anderes mehr sehen konnte. Städtenamen, Flüsse, Landschaften, Gebirge waren durch die roten Fähnchen, auf denen Wochenend im Heim stand, völlig überdeckt. Aus Bresgotes Zimmer war noch nichts zu hören, und die Stille dieses großen Hauses, das sonst mit Lärm gefüllt war, bedrückte ihn. Die Uhr drüben am Warenhause zeigte zehn Minuten nach eins an, und um Viertel nach würde Martin aus der Schule kommen.
Schwarzbekittelte junge Mädchen waren drüben beschäftigt, unter der
Aufsicht einer milchschokoladefarbenen Frau an den Pfeilern zwischen den Schaufenstern Plakate anzukleben. Die Plakate waren alle rot und trugen weiß die Aufschrift: Solide. Er ärgerte sich, weil Bresgote noch nicht kam, denn er war beunruhigt wegen des Jungen. Martin war so zerstreut, er brachte es fertig, sein Essen aufs Gas zu stellen, dann ins Zimmer zu gehen, dort zu lesen und in der Wärme des Zimmers einzuschlafen, während in der Küche das Gemüse verkohlte, zu schwärzlichen Flocken verbrannte, die Suppe verdampfte und die Nudeln zu einem finsteren Konzentrat zusammenbuken. Auf dem Tisch lagen alte Nummern von Wochenend im Heim, auf der Rückseite mit seinen Witzen bedeckt. Er öffnete die Tür zum Flur und horchte hinaus; kein Schritt war zu hören, keine Tür wurde aufgerissen, nirgendwo rasselten Telefone, und nirgendwo waren diese verzweifelt jungenhaften, verzweifelt fröhlichen, verzweifelt journalistischen Journalistengesichter zu sehen, die an schlechte Journalistenfilme erinnerten, deren Wortschatz schlechten Journalistenhörspielen entnommen war. Heute war das Haus leer, unten am Eingang hatte das große weiße Schild gehangen: Wegen Betriebsausflug geschlossen, und es hatte einige Zeit gedauert, bis der Pförtner ihn einließ. Der spezielle Snobismus der Besitzer von Wochenend im Heim bestand darin, Flure, Zimmer, alles betont ungepflegt zu lassen, eine penetrante Schäbigkeit, die den Gewinnen des Unterneh Ȭ
mens widersprach. Die nackten Betonwände der Flure waren mit Plakaten
geschmückt, und in bestimmten Abständen stand auf Tafeln in verstellt kindlicher Schrift Ȭ so wie man sie auf Plakaten für Schiefertafeln verwandte:
»Wenn du auf den Bohden spuhkst, bist du ein Schwein« Ȭ und auf anderen:
»Wenn du kiepen auf dem bohden wirfst, bist du auch ein schwein.« Er erschrak, als sich eine Tür in den düsteren Flur hin öffnete, aber es kam nur ein Mädchen aus der Telefonzentrale. Es ging zum Wasserhahn, wusch dort sein Eßbesteck ab und sagte in die offene Tür der Zentrale hinein, was er schon so oft gehört hatte: »Laß dir nichts vom Nachtisch geben, dieser rote Pamps ist scheußlich, die Soße ist angebrannt.«
Aus dem Zimmer rief die Kollegin: »Die anderen werden heute besser essen, daß muß der Chef uns gutmachen.« »Wird er tun«, sagte die, die am Wasserhahn stand. »Die zehn, die heute hierbleiben, werden mit Schabs den Ausflug nachholen. Wird viel schöner als der Massenausflug heute.« »Hast du die schönen roten Omnibusse gesehen?«
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