Hausers Zimmer - Roman
bestehen, dass wir noch mal aufs Klo gingen, bevor wir uns in den Scirocco setzten, dann ginge es los. Dreieinhalb lange, öde Wochen würden wir dann in einem einsamen Bauernhaus in der Bretagne sitzen; gekrönt würde der Urlaub von dem Familienfest in Paderborn, vor dem sich Wiebke und Klaus, die »bösen« Berliner, schon seit Wochen fürchteten.
Ich sollte schlafen. Ich beobachtete den Sekundenzeiger meines Weckers, wie er über das Ziffernblatt kreiste. Dann spitzte ich die Ohren: Leise Musik drang vom Hof zu mir herüber. Sun of Jamaica, blue lady Malaika, some day I will retur n … Ich stand schnell auf und lief zum Fenster. Im orangefarbenen Licht stand der Hauser und hatte außer einem schwarzen Halstuch nichts an. Er trank Bier und drehte sich in langsamen Bewegungen zur Musik.
Am Morgen kamen wir nicht rechtzeitig los. Wiebke und Klaus saßen in der Küche, die Köpfe auf die Hände gestützt und schauten sich traurig an. Ein Frankfurter Schriftsteller und Psychoanalytiker war gestorben. Seinen Namen konnte ich mir nicht merken: Alexander Mitschmatsch, sagte ich, was Wiebke als »lernfaul und dumm« bezeichnete. Lernfaul und dumm! Der Vormittag war beherrscht vom Gespräch über den Tod des Herrn Mitschmatsch. Ich wünschte, der alte Herr hätte wenigstens noch einen verdammten Tag länger durchgehalten und wir hätten nicht in dieser Grabesstimmung in den Urlaub aufbrechen müssen. Wiebke und Klaus hatten spürbar keine Lust mehr, wegzufahren.
»Mir ist gerade eher nach Deutschland als nach der Bretagne«, sagte Klaus leise im Auto. Falk und ich sahen uns an, diese Stimmung kannten wir nur zu gut bei ihm.
Melancholische Deutschlandsehnsucht. Heimatsucht. Heimatsuche. Deutschland als Anfang und Ende vom Lied. Berlin, die gelobte Stadt, die utopische Stadt. Die Stadt aller Städte. Die beste, die verdorbenste. Nur nicht Provinz. Restdeutschland. Arroganz aus Leid. Deutschlandhass, Heimatsuche. Deutschlandliebe, verkappte.
Auf der Autobahn schaltete Wiebke im Radio eine Diskussion über eine mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe ein. Die Todesstrafe, forderten manche CDU -Politiker, müsse es für Terroristen geben; der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht sprach anschließend über neue Atomkraftwerke.
Ich merkte an Wiebkes Fahrstil, was sie von den jeweiligen Radiobeiträgen hielt. Wenn sie den Fuß vom Gaspedal nahm und die Augen versonnen zu Schlitzen machte, fand sie einen Beitrag sehr erhellend, richtig und interessant. Wenn sie das Lenkrad fest umklammerte und kräftig aufs Pedal drückte, regte sie sich auf. Es war eindeutig: Von Ministerpräsident Albrechts Ausführungen hielt Wiebke rein gar nichts. Wütend jagte sie unseren heftig klappernden Scirocco mit 16 0 Sachen über die Autobahn. Wenn Wiebke sich aufregte, fuhr sie einhändig, weil sie sich mit der anderen Hand die Haare raufte. Ich fing auch an, mich über diesen Albrecht zu ärgern.
Endlich kamen wir an einen Rastplatz. Falk wechselte sich mit Klaus auf dem Beifahrersitz ab. Mir war es lieber, wenn Klaus vorn saß. Denn wenn Falk vorn war, fummelte er die ganze Zeit am Radio herum, stellte ständig einen anderen Sender ein und erging sich in langen Monologen über die seiner Meinung nach grundsätzlich beschissene Musik, die im Radio gespielt wurde.
Die Autofahrt zog sich hin; Falk und ich begannen unseren Eltern abstruse Fragen zu stellen; ich fragte Wiebke und Klaus nach den Namen irgendwelcher Schelfeisflächen in der Antarktis, Falk fragte uns militärisches Equipment und Pferdegeschirr auf Latein ab. Wiebke und Klaus rächten sich mit Vorträgen über Die bleierne Zeit . Vor uns lag, grau und scheinbar endlos, die aus Betonplatten zusammengeschusterte Autobahn, die durch die Deutsche Demokratische Republik führte.
Seit sieben Tagen hatte ich mir die Haare nicht mehr gewaschen. Täglich machte ich mit Falk Spaziergänge am Meer, wobei wir selten miteinander redeten. Manchmal borgte er mir einen Walkmanstöpsel, und ich hörte dann, ob ich wollte oder nicht, Pornography , das neue Album von The Cure . Wie ging es einem, wenn man den ganzen Tag solche Texte hörte? It doesn’t matter if we all die , so fing One Hundred Years an. Oder The Funeral Party vom Album Faith , wo zwei bleiche Gestalten alt und traurig nebeneinanderstehen, schweigend, voller Schmerz .
Einmal liefen wir mit nackten Beinen Seite an Seite durch die Gischt der Flut, als Falk mir zurief: »Hör mal, da musst du dich jetzt richtig
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