Hausers Zimmer - Roman
worden.
Die einzige Abwechslung bot der Fußball, es war ja WM . Am 11 . Juli war Deutschland im Endspiel. Es begann nicht vielversprechend, denn Michael Schanze sang gemeinsam mit der deutschen Elf in Spanien seinen Song Olé España . Falk konterte gleich: »O weh, España.« Wiebke und Klaus versicherten sich in einem fort gegenseitig, dass sie selbstverständlich gegen Deutschland seien, denn ein Sieg Deutschlands werde sicher zu unangemessenem Nationalismus führen. Doch ich ertappte Klaus dabei, wie er bei jedem der drei italienischen Tore (Deutschland schoss nur eines) fluchte und stöhnte. Als ich ihn darauf ansprach, meinte er, aus irgendeinem Grund seien die Tore »nicht verdient« gewesen. Schien mir nicht so, aber ich wollte mit meinem über die Niederlage Deutschlands offenbar doch unglücklichen Vater nicht streiten. Nein, seine melancholische Deutschlandsehnsucht hinter allem Restdeutschlandgerede war eine schwierige Angelegenheit, da hielt man sich besser raus. Die Stimmung an diesem Abend war gedrückt, Klaus und Wiebke verzogen sich nach dem verlorenen Endspiel mit Kunstbänden und Katalogen in ihre Hängematten und tuschelten leise miteinander. Wo Politik und Sport sie deprimierten, baute die Kunst sie auf.
Einige Tage später las Klaus Wiebke, Falk und mir beim Frühstück aus dem Tagesspiegel , der Gott sei Dank mittlerweile regelmäßiger geliefert wurde, fassungslos eine Meldung vor: Das Bundeskabinett beschließt, durch finanzielle Anreize ausländischen Gastarbeitern die Rückkehr in die Heimat zu erleichtern.
Ich dachte an die Türkin, die sich in Hamburg aus Protest gegen Ausländerfeindlichkeit verbrannt hatte, und daran, wie ich es als Gastarbeiterin wohl empfinden würde, wenn man mir mehr oder weniger unverhohlen nahelegen würde, mich zu verpissen. Ich erzählte Falk von diesen Grübeleien. Er riss die Augen auf und sagte: »Endlich hat meine kleine Schwester mal ’ne Meinung und labert nicht nur anderen hinterher.« Dann tätschelte er mir anerkennend die Schulter. Eine Minute später verkroch er sich mit seinem Zauberwürfel und seinem knisternden Kassettenrekorde r – ob in Berlin oder in der Bretagne, Falk tat immer dasselbe.
Manchmal dachte ich an den Adán. An sein Lächeln. An seine freundliche zuvorkommende Art. Ich fragte mich, ob er einsam war, und ob er jetzt eine Begleitung für seine Lochow-Ausflüge hatte. Oder ob er immer nur in seiner Freizeit dermatologische Fachmagazine las. Und was er mir denn Besonderes zeigen wollte.
Elf Tage nach dem verlorenen Endspiel sahen wir in unserem gemütlichen Bretagne-Häuschen Unglaubliches im Fernsehen: Die neue Pershing- II -Rakete, mit der »nachgerüstet« werden sollte, explodierte in Florida beim Probestart.
Die Fotos waren so bestürzend, dass ich sie nachts immer wieder vor den geschlossenen Lidern sah. Ein Grund, die Augen offen zu lassen, zu versuchen, nicht einzuschlafen. Im Schlaf vermischten sich dann Bilder von Atompilzen mit der Pershing- II -Katastroph e – einige Menschen fingen an, von einem neuen Zeitalter der Macht der Bilder zu sprechen, einem gefährlich irrationalen Zeitalter, in dem wir uns alle manipulieren lassen, anstatt unseren Verstand einzusetze n … Nach dem Desaster mit der Pershing II erschien die neue Ausgabe einer kleinen Kunstzeitschrift, die Wiebke und Klaus auch nachgeschickt worden war, komplett ohne Bilder. In der folgenden, zeitgleich eintreffenden Ausgabe waren dann wieder bunte, expressionistische Schinken zu finden. Und ein Foto von unserem Hinterhof. Mit dem Brustheer von Herrn Kanz. In Farbe. Mit Brennnesselgestrüpp, Ratten, Tauben, eingetretener Coladose, olkpink angesprayten Globen und auseinandergenommenem Motorrad im Hintergrund. Ich bekam Heimweh.
Endlich reisten wir ab. Wie üblich machten wir einige Zwischenstopps, Wiebke und Klaus hatten ein sattes Bildungsprogramm ausgetüftelt, so dass jeglicher Erholungseffekt zu schwinden drohte. Falk setzte sich manchmal einfach ab, was regelmäßig Unmut bei Wiebke und Klaus auslöste. Leider wollte er mich bei seinen Erkundigungstouren nicht dabei haben. (Gestern kam er mit einem Monokel zurück! Wo er das wohl aufgetrieben hatte?)
Bevor es endgültig nach Paderborn ging, planten Wiebke und Klaus noch einen weiteren Abstecher; sie schienen ihre Ankunft bei der Familienfeier bis zum letzten Moment hinauszögern zu wollen. Sie wollten ein Museum mit dem merkwürdigen Namen Kröller-Müller in den Niederlanden, eine Stunde von
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