Hausers Zimmer - Roman
sehe schon, meine kleine Schwester möchte sich heute das deprimierende Erlebnis ersparen«, schloss Falk und machte scheuchende Handbewegungen.
An einem der nächsten Abende ging wieder AC / DC los. Als ich in Hausers Zimmer guckte, musste ich mir die Augen reiben: Der Hauser stand mit nacktem Oberkörper vor einer der Rattenlochleinwände, die er geweißt hatte. Er malte hier und da schwarze Kringel auf die Leinwand; wie es aussah, nach Lust und Laune. Alle paar Minuten brach er ab, trat ein, zwei Schritte zurück und betrachtete sein Werk. Zwischen zwei Headbangern schmierte er dann wieder einen Kringel auf die Leinwand. Einmal spuckte er auf sie. Ich legte mein Fernglas weg.
Bahnhof Zoo – Herbstferien
Beim Frühstück erzählte Wiebke, dass Oma Helene in den Herbstferien zu Besuch kommen werde. Wir hatten sie lange nicht mehr gesehen, das letzte Mal vor zwei Jahren im Taunus. In Berlin war Helene bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr gewesen. Sie kam äußerst ungern in die Stadt, in der sie vor und während des Krieges gelebt hatte.
Wiebke stöhnte: »Ich habe einen Abgabetermin für eine dänische Übersetzung, mir passt das eigentlich gar nicht. Ich kann mich nicht die ganze Zeit um meine Mutter kümmern. Die ist doch schon über siebzig.«
Helene hatte Wiebke für damalige Verhältnisse spät bekommen, mit Anfang dreißig. Warum, hatte ich nie in Erfahrung gebracht. Über derart Privates sprach ich nicht mit Oma Helene. Wiebke hatte noch einen jüngeren Bruder, den wir aber nur selten zu Gesicht bekamen, da er mit seiner Familie in England lebte.
Einmal schimpfte Wiebke: »Oma Helene kommt nur wegen Falk und dir nach Berlin. Um mich geht es dabei nicht. Aber an wem bleibt die Arbeit hängen? An mir.«
Ich konnte nicht sagen, dass ich Oma Helene gernhatte, doch sie beeindruckte mich. Menschen wie Helene gab es heute kaum noch, schien mir. Menschen, die ein erzkonservatives Bürgertum verkörperten, dem Scheidung noch als Frevel galt und das deshalb in den Siebzigern Brandt verachtete. Penner waren selber schul d – das betonte Helene unablässig, und jedes Mal, wenn ich Helene traf, wusste ich, warum Wiebke bei uns die Penner mit durchfütterte. Aber in ihrer fraglosen Klarheit faszinierte mich Helenes Sicht auf das Leben, auch wenn ich sie befremdlich fand. Es war das Weltbild von Menschen, die immer in Gegensätzen gedacht hatten: Sieger, Verlierer, Krieg gewonnen, verloren, ein anständiger Deutscher, ein Russenschwein sein, Geld, kein Geld haben, etwas »auf die hohe Kante legen«, sein Geld verplempern, es zu etwas bringen, auf der Straße enden oder unter der Brücke landen, gepflegt aussehen, liederlich gekleidet sein, reizend oder unflätig sein, einen guten oder einen schlechten Charakter haben, aus einer »besseren Familie« kommen, aus »einfachen Verhältnissen« stamme n – so in etwa sprach und dachte Oma Helene; ein Mensch, der gleichzeitig einen Bildungsradius besaß, mit dem nicht einmal Klaus mithalten konnte. Ein Mensch, der jede Oper kannte, aus vielen Büchern der Weltgeschichte zitieren konnte, ganz zu schweigen von endlosen lateinischen Zitaten, die Falk sprachlos machten, ein Mensch, der sogar mit moderner Kunst etwas anfangen konnte, weil einige Künstler von Helene mit dem Prädikat »mutig« belegt worden waren. Und nicht feige. Picasso, Matisse und Braque waren zwar »verrückt«, aber hatten »zweifelsohne Mut bewiesen«. Und: »Der Impressionismus passte nicht mehr in die neue Zeit.«
Zweifel an ihren Ansichten hatte Oma Helene nie geäußert. Wenn ich ihr begegnete, verstand ich nur zu gut, warum Wiebke und Klaus sich ständig widersprachen und so inkonsequent handelten. Warum sie stets endlose Diskussionen führten und uns mit ihrem ewigen »obwohl«, »möglicherweise«, »ausnahmsweise« oder »aber vielleicht doch« quälten.
Mit Oma Helene unter einem Dach zu leben muss die Hölle gewesen sein. Wenn Wiebke nicht aufgegessen hatte, bekam sie ein paar hinter die Ohren. An diese Schilderungen von Wiebke versuchte ich zu denken, wenn Wiebke und Klaus mich mal wieder halb wahnsinnig machten. Wiebke konnte nicht über ihre Kindheit sprechen, ohne sich die Haare zu raufen, zu seufzen und manchmal auch zu heulen.
Am nächsten Tag fuhren Wiebke, Falk und ich zum Zoo. Der Bahnhof Zoo, groß, dunkel und schmuddelig, war eine Institution in West-Berli n – dass er eines Tages zum Regionalbahnhof herabgestuft werden würde, war damals nicht vorstellbar.
Als wir auf den
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