Hausers Zimmer - Roman
Bahnsteig liefen, wartete Oma Helene schon. Wir waren fast pünktlich, aber in all den Jahren hatte sie stets vor uns am Bahnsteig gestanden. Als könnten Züge, in denen Oma Helene saß, nicht unpünktlich sein.
Die Begrüßung fiel kurz, fast etwas schroff aus. Oma Helene wollte gleich zum Auto. Sie bahnte sich zielstrebig ihren Weg durch die Menschenmenge, nicht einmal ihren Koffer durfte einer von uns ihr abnehmen. Auf dem Weg zum Parkplatz war sie entsetzt über die vielen Penner. »Das werden hier auch immer mehr! Damals waren die Landstreicher Kriegsversehrte, mit denen hatte man Mitleid, aber heut e …«
»Heute sind es Kapitalismusversehrte«, meinte Falk, um sich gleichzeitig bei Oma Helene einzuhaken: »Du weißt doch, wenn du hierherkommst, gibt es immer viele, viele Falk-Sprüch e …«
Ich zog meinen Bruder an der Jacke und flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn Helene wüsste, dass wir mit ihren Care-Paketen Erwin und Karl durchfüttern!«
Er grinste zurück. »Und den Lochow-Fuch s …«
Ich musste kichern. Falk fuhr fort: »Die Nutella nehm’ ich mir aber jedes Mal raus und kille die nachts auf meinem Hochbett.«
Jetzt war ich wieder dran: »Ich sacke die Orangen-Schokokekse ein. Die futter’ ich beim Teetrinken mit Fiona und Isa auf. Wiebke kauft die ja nie für uns, weil sie so arschteuer sind. Die Chips behalte ich manchmal für mich.«
»Ich auch!«, flüsterte Falk und zwinkerte mir zu.
Wir fuhren in unserem klapprigen Scirocco an den Fressbuden und dem Beate-Uhse -Shop am Zoo vorbei in unser Sträßchen. Um ihr Missfallen über unser Auto zum Ausdruck zu bringen, schwieg Oma Helene während der ganzen Fahrt mit verkniffenem Gesicht, das wohl zum Audruck bringen wollte, wie nervlich anspannend diese Fahrt für sie war. Als wir zu Hause ausstiegen, kam gerade Familie Söylesin aus der Durchfahrt. Oma Helene kniff mich in den Arm: »Dass ihr in so einer Gegend wohnt, war mir nicht klar!«
Den schlechten Eindruck, den die Söylesins allein aufgrund der Tatsache machten, dass sie schwarzes Haar hatten, konnte der Hauser immerhin noch übertreffen. Als er mit vor dem Gesicht hängenden langen Locken aus der Durchfahrt torkelte und auf den Bürgersteig spuckte, fragte mich Oma Helene, ob er ein Heroinabhängiger sei. Nun entstand die absurde Situation, dass Wiebke nicht wusste, ob sie Oma Helenes Hauser-Klagen unterstützen sollte, denn sie lehnte ihn ja auch ab, oder ob sie unser Haus, also eigentlich die ganze Stadt Berlin, inklusive Hauser, vor Oma Helene verteidigen sollte.
Wiebke fand einen für sie typischen Kompromiss: »Unser Nachbar, der Herr Hauser, ist ein sehr schwieriger Mensch, aber die Hausgemeinschaft fängt hier so etwas auf.«
Wollte Klaus nicht lieber heute als morgen, dass sein liebster Nachbar das Weite suchte?
Wenn ich meinte, dass Oma Helene gesteigerten Wert darauf legte, dass sich irgendjemand von uns um sie kümmern würde, hatte ich mich getäuscht. Wiebke hatte mehr als genug Zeit für ihre Übersetzung. Wenn sie den Abgabetermin nicht einhalten würde, läge das an ihrem Stricken, Telefonieren, Musikhören, Lesen, Ins-Theater-Gehen und Zu-Vernissagen-Rennen, nicht aber an ihrer Mutter.
Oma Helene stand morgens Stunden vor Falk und mir auf und kam erst abends spät wieder. Sie schaute sich die Stadt an, traf alte Freundinnen, ging ins Konzert, in die großen Museen, in die Deutsche Oper und für einen Tag nach Ost- Berlin. Mir wurde bald klar, dass sie keineswegs, wie Wiebke behauptet hatte, in erster Linie wegen Falk und mir die Reise auf sich genommen hatte. Sie wollte sich ihre alte Heimat wieder anschauen.
Einmal drängte ich ihr meine Begleitung geradezu auf. Ich fragte sie, ob sie Lust habe, am Abend mit Fiona und mir ins Grips -Theater zu gehen. Im gleichen Moment merkte ich, dass ich mir Oma Helene dort gar nicht vorstellen konnte.
Zu meiner Überraschung gab sie zurück: »Was ist das denn? Ein Theater für die Jugend? Etwas Geistvolles? Klingt so. Ich komme mit.«
In der U-Bahn sprach Helene kaum mit uns. Für Oma Helene waren Kinder Beiwerk, kleine unvollständige Erwachsene, nicht direkt lästig, aber kein Grund für permanente Rücksichtnahme oder übertriebene Aufmerksamkeit. Von Verwöhnen konnte nicht die Rede sein.
Als wir dann vor dem Grips -Theater standen und Oma Helene einige Plakate sowie die anderen Besucher studiert hatte, überlegte sie es sich anders. »Julika, es tut mir leid, ich möchte doch nicht mitkommen.«
»Oh, warum denn
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