Hausers Zimmer - Roman
Jahr diesen Satz gehört: Eine Ära geht zu Ende. Das endgültige Ende der Siebziger, das Ende des sozialdemokratischen Deutschlands, das allerletzte Ende der linken Utopien, die nach dem Deutschen Herbst im anschließenden Dauerfrost noch übrig geblieben waren, überwintert hatten. Vor dem Herbst hatte ein Sommer gelegen, nicht nur jahreszeitlich, wurde geunkt, die konservative Wende in Berlin und in Deutschland allgemein schien in in diesem Jahreszeitenmodell ein Frosteinbruch zu sein. Klaus brachte sein Immendorff-Zitat mit der Kunst und den Kartoffeln wieder an. Die Kunst hatte nichts Nahrhaftes mehr, sondern war wieder frei geworden, der Inbegriff des Gegenweltlichen, des Anderen, hatte sich in höhere Sphären verflüchtigt.
Herr Wiedemann tauchte in einem schwarz-roten Anzug auf und schrie volltrunken zu später Stunde: »Es lebe die Künstleroligarchie!«
Den Abend über herrschte Melancholie. Es war, als hätte die RAF einen zutiefst unbewussten, nicht gesellschaftsfähigen Teil einiger nicht gewaltbereiter, bürgerlicher Linksintellektueller verkörpert. Mit der Verhaftung und dem Untergang der zweiten Generation der RAF mussten sie von der Vorstellung einer wie auch immer gearteten »Revolution« Abschied nehmen.
Die Einzige, die nicht von einer gewissen postrevolutionären Wehmut befallen war, war Anna. Mit der neuesten Ausgabe der ai informationen unterm Arm verkündete sie, dass Christian Klar für sie noch nie einen »Weg gewiesen habe«. »Der Kerl hat Anfang der Siebziger den Wehrdienst mit der Begründung verweigert, er habe eine ›zutiefst lebensbejahende Haltung‹, weshalb ihn nichts und niemand dazu veranlassen könne, ›einen Menschen zu verletzen oder zu töten‹. Einerseits vom Staat dafür Verständnis einklagen, aber dann Vertreter genau dieses Staats umbringen, nein danke.«
In jedem Fall war die Stimmung bei uns zu Hause geprägt von diesen Gesprächen und Selbsterkundungen. Ich feierte nicht nach, lud niemanden mehr ei n – ich betrachtete den Rattenlochbesuch mit dem Anzünden der Altarkerze als meine Geburtstagsfeier.
Nachts suchte ich den Namen Adán in unserem Telefonbuch. Er war nicht aufgeführt.
Anna und das Ekel – Ein bisschen Frieden
Am nächsten Morgen ging ich mit Fiona zur Schule. In meiner Umhängetasche lag ein Entschuldigungsbrief von Wiebke wegen meines Fehlens. Wiebke war es leid, dauernd Briefe für mich schreiben zu müssen, und fand es nicht gut, dass ich, wie sie ständig sagte, eine »Touristenhaltung« zur Schule entwickelt hätte. Mir gefiel der Gedanke wiederum sehr, woanders zu leben und nur hin und wiede r – als Touris t – die Schule zu besuchen.
Als Fiona und ich an »unserer« Apotheke vorbeiliefen, blieb ich stehen und blickte hinein. Die Chefin stand hinter dem jungen Mädchen, das heute einen neongrünen Rollkragenpullover unter dem Kittel trug, und fuchtelte mit einem Blutdruckgerät herum. Ihr Kopf war von dem Kopf der Jüngeren verdeckt. Von hier konnte man nur ihre Arme sehen, die junge und die alte Apothekerin sahen aus wie Shiva, und die junge bewegte ihre Arme nach der strengen Regie in ihrem Rücken. Wenn sie beide geahnt hätten, wie absurd sie aussahen, nein, das konnten sie sich nicht vorstellen. Verrückt waren ja immer nur die anderen.
Langsam ging ich weiter. Aus der Peepshow kam heute Herr Kralle, ein Kunstkritiker, mit dem Wiebke und Klaus befreundet waren. Herr Kralle tat so, als hätte er mich nicht gesehen. Mich ärgerte diese Art, auch wenn dieses Verhalten aus Herrn Kralles Sicht einen verständlichen Grund hatte.
»Tach, Herr Kralle!«, rief ich betont fröhlich und freute mich darüber, wie der große massige Mann zusammenzuckte.
Da kam schon der Bus; wir rannten uns die Lungen aus dem Leib, als ginge es um unser Leben (was man nicht so alles tat, nur um zur Schule zu gelangen!). Wir erwischten ihn gerade noch, und mit einem schmatzenden Geräusch schlossen sich die gummierten Türen hinter uns. Es war ein Geräusch, das ich hasste. Das Gegenteil davon wäre der patagonische Steppenwind, da war ich mir sicher.
»Und, hast du alles drauf für Erdkunde?«, zerschnitt Fionas fiepsige Stimme meine Tagträume. Stimmt, gleich hatten wir eine Klausur. Das Thema der letzten Wochen war die Verschmutzung der Havel gewesen. Im Vergleich zur Verunreinigung der Spree. Und des Rheins. Am letzten Wandertag, einem nach der Ost-Berlinfahrt, waren wir alle zur Havel gefahren, aber anstatt in der Schlammscheiße munter schwimmen
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