Hausers Zimmer - Roman
es nicht realistisch wäre, und auch, als ich ihr einmal ausführlich die Charaktere verschiedener von mir erfundener Comicfiguren, des Gelben Scheiblettenkaisers , des Dolomiti-Eistigers mit Schnurrbart und der Bifi-Langfinger-Bande in Ringelpullis erläuterte. Wiebkes Traum war es, Kinder- und Jugendbücher selbst zu schreiben. Aber bisher war sie mit ihren Übersetzungen und den vielen Vernissagen, zu denen sie Klaus begleitete, viel zu beschäftigt. Auf ihre Mädchenfiguren hätte man gespannt sein können.
Ich lehnte meine Wange an Wiebkes Arbeitszimmertür. Kein Klacken. Wiebke tat immer so, als würde sie den ganzen Tag lang arbeiten, in Wirklichkeit faulenzte sie oft. Wenn ich die Tür öffnen würde, säße sie bestimmt auf ihrer Couch (die wesentlich abgenutzter aussah als ihr stoffbezogener Drehstuhl) und las oder strickte.
Was sollte ich jetzt machen? An Falks Tür hing, natürlich, das Geschlossen -Schild. Auf Schularbeiten hatte ich keine Lust. Meine Kakteen waren versorgt, und die Hauptstädte Mittel- und Südamerikas wusste ich schon bis T (Trinidad und Tobago/Port-of-Spain) auswendig. Mit einer Tüte Gummibärchen krabbelte ich aufs Fensterbrett und starrte in den Hof. Der klobige Sechzigerjahreblock gegenüber färbte sich im Regen schwarz, um langsam fleckig zu ergrauen. Ich schaute einfach nur zu. Regen, Nieselregen, heftiger Regen, Hagel, Stille, Totenstille, wieder Regen, Glucksen, Knistern, Rascheln, Plätschern, Nieseln, Regen, Regen, tropfendes Wasser von den Regenrinnen. Ich geh nicht kaputt, kommst du trotzdem mit , krakelte der nackte Hauser auf eine Wolke am hawaiianischen Himmel. Und ich schrieb ein unsichtbares Ja auf die Granitplatte des Berliner Himmels.
Vielleicht sollte ich einfach mal ins Hinterhaus gehen und versuchen, beim Hauser durchs Schlüsselloch zu schielen. Schon im Treppenhaus hörte ich den Hauser-Fernseher. The Wiebkes and the Klauses guckten auch gern fern, aber aus irgendeinem Grund waren große Fernseher in ihren Augen etwas für Proleten. Lieber einen kleinen mit flimmerndem Bild. Mit klopfendem Herzen stand ich vor der Tür.
»Wat willste?«
»Zwei Zitronen, wenn Sie vielleich t …«
»Hab ick nic h …«
»Wat willste?«
»Einen Kugelschreiber, nur ganz kur z …«
»Sach ma’ jibts so wat nich bei dein’n Eltern?«
»Wat willste?«
»Vielleicht, wenn Sie eine kleine Batterie für mein Radio hätte n …?«
Jedes Mal, wenn ich meine Hand zum Klingelschild ausstreckte, zog ich sie gleich zurück. Ich wollte doch nur mal seine Wohnung richtig von innen sehen. Entmutigt ging ich über den Hof zurück zu uns nach oben, fand einen Lotto Toto Spiel 77-Aufkleber in meiner Hosentasche und klebte ihn auf eine der wenigen freien Stellen auf meiner Tür.
In einem der Flure begann ich mit einer leeren Fanta-Dose Fußball zu spielen. Niemand hörte mich, niemand nahm Notiz von mir. Ich kickte so vor mich hin. Vielleich t – war ich frei. Nach den Gesetzmäßigkeiten der Höhle, versteht sich. So wurde mir wenigstens warm; die Kachelöfen schafften es kaum, die großen Zimmer aufzuheizen, von den Fluren ganz zu schweigen. Die Durchschnittstemperatur einer Berliner Wohnung, im Westen wie im Osten, muss damals mindestens drei Grad niedriger gewesen sein als heute. Vom »mediterranen Berlin«, von Strandbars war noch nicht die Rede. Wir, auch in West-Berlin, waren im Osten . Und Osten war, in jeder Hinsicht, gleichbedeutend mit Kälte.
Gut, dass Wiebke und Klaus mein Dosenkicken weder hörten noch sahen; die Mischung aus Herumkicken und herumstehender Kunst vertrug sich nicht unbedingt. Ob in unserem Hinterhof oder in unserer Wohnung, Kunst stand einfach überall, und die Erwachsenen quälten uns mit überflüssigen Unterscheidungen aller Art. Klaus behauptete, ich würde Stile, Epochen und Richtungen durcheinanderwerfen. Meinetwegen. Und wenn schon. Jedenfalls hatten Falk und ich mittlerweile viel Erfahrung, was Fußballspurenbeseitigungen an Kunstwerken anbelangt. Was hatten wir schon mit Sekundenkleber, Tesa und Pattex an den Heiligtümern rückgängig gemacht!
Ich war langsam müde vom Kicken. Bei Falk hing immer noch Geschlossen ; ich verzog mich in mein Zimmer.
Der Hauser stand nackt vor seinem Fernseher und trommelte darauf herum. Dann nahm er einen Schluck Bier und spuckte an die Wand. Noch einmal. Ich glaubte zu erahnen, was er da machte. Er versuchte, mit der Spucke Fliegen an der Wand zu treffen. Befriedigt rieb er sich die Hände und ließ sich aufs
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