Hausers Zimmer - Roman
Geburtstag kommen konnte, auch. Als sie eine Eins in Geschichte bekam, freute sie sich, und jetzt, wo Joshua, unser Schulsprecher, der schon drei Jahre älter war, sie zu einer seiner berüchtigten Partys eingeladen hatte, strahlte sie wie die Frau auf meinem Wer wagt, gewinnt -Aufkleber.
Ich war natürlich nicht eingeladen worden. Früher war ich nie zum Rollerskaten oder Schwimmen (außer mit Isa und Fiona allein) mitgekommen, weil ich Verabredungen, bei denen schon feststand, was man zusammen macht e – diese »gemeinsamen Unternehmungen « –, nicht mochte; jetzt lud man mich nicht mehr ein. Isa hielt zu mir, obwohl es für sie kein Pluspunkt war, mit mir befreundet zu sein. Ich hatte beschlossen (nachdem ich über mehrere Träume von Isa nachgedacht hatte), dass ihre beiden Haupteigenschaften »Unmerkwürdigkeit« und »Gutmütigkeit« waren. Das hatte ich auf meiner neuen Leute-Liste (ellenlange Listen mit vermuteten oder unterstellten Charaktereigenschaften mir nahestehender Menschen, die Bestandteil meines Hauser-Heftes geworden waren) notiert, die unter meinem Bett lag und nachts fortgesetzt wurde, wenn ich nicht schlafen konnte. Eine Person, der ich besonders viele Listen gewidmet hatte, war natürlich Falk. Mit ihm verhielt es sich völlig anders als mit Isa. »Merkwürdigkeit« und »Gemeinsein« rangierten weit oben bei ihm. Mein Bruder kokelte Wespen an und sprühte mit Spraydosen auf Spatzen. Er klebte älteren Damen im Supermarkt Kaugummi ins Haar und schickte orientierungslose Touristen, die nach dem Ku’damm fragten, in Richtung Rattenloch. Und wer ins Theater wollte, fand sich auf der Hundewiese wieder. Wenn man sagte, dass Siouxsie and the Banshees ihren Song Spellbound besser sängen als er, konnte es passieren, dass er einem nachts eine Haarsträhne aus dem Pony schnitt. Mein Bruder war der einzige Mensch, den ich kannte, der Anderen an ihren Mückenstichen kratzte, damit es sie juckte. Allerdings konnte ich Falk auch »Einfallsreichtum« und »Schläue« nicht absprechen.
Aber ich konnte mir vorstellen, Falk vom Hauser zu erzählen. Mein Bruder machte sich genau dann nicht über einen lustig, wenn jeder andere Mensch es täte. Falk war vor einem Jahr, da war er sechzehn, unsterblich in seine Musiklehrerin verliebt gewesen. Er lief abends zu ihrem Haus und stand stundenlang vor der Tür. Er zerstach ihre Autoreifen und schrieb ihr anonyme Liebesbriefe. Und mich weihte er ein. Nicht seinen besten Freund Christian, der zwei Jahre älter war, die Schule schon abgeschlossen hatte und in einem besetzten Haus in der Danckelmannstraße lebt e – nur mich. Eigentlich taten wir nur so, als ob wir uns nicht besonders leiden konnten, es war eine alte Gewohnheit, uns anzuranzen und die Türen zu knallen, aber im Grunde hatte es keine Bedeutung.
Die Geschichte mit seiner Musiklehrerin nahm jedenfalls kein gutes Ende. Wobei mir von Anfang an nicht klar war, welches Ende sie überhaupt hätte nehmen sollen. Einmal, als Falk sehr bekifft war, murmelte er etwas von »Vögelnwollen«, aber ich konnte mir unsere Frau Dretzel nicht so recht bei ihm auf dem Hochbett vorstellen. Und auch ihn nicht in ihrer Schöneberger Wohnung, mit dem blaumetallicfarbenen GTI ihres Mannes vor der Tür. Falk schrieb ihr Songs und batikte ihr ein T-Shirt, auf dem ein brennender Kopf zu erkennen war. Aber er verschickte diese Dinge nie, und ich war mir nicht sicher, ob sie je von der ganzen Sache erfuhr.
Während ich über Falk nachdachte, schaute ich aus meinem Fenster in den Hof. Isa war längst nach unten gegangen. Der Hauser schien nicht da zu sei n – er war auch nicht unten bei seinem auseinandergenommenen Motorrad oder den alten Fahrrädern, die er reparierte und womöglich verkaufte. Es fing an zu nieseln. Es war ein Regen für Hinterhofwohnungen und Rattenlöcher, für Hochbetten und Denkzimmer, ein Regen, vor dem man sich verkriechen wollte, ein Regen für Olks, Kanze und Koderitze, kein wütender Hagelregen, sondern ein hoffnungsloser Regen, der den Taubendreck auf meinem Fensterbrett langsam auflöste und den Rostflecken an den Mülltonnen beharrlich zuarbeitete.
Ich sah König Regen weiter zu, wie er seine Soldaten, sein tausendfaches Fußvolk, an meiner Scheibe aufmarschieren ließ. Da, da liefen sie. Und da, da stoben sie auseinander. Dann lehnte ich meine Wange an die Scheibe und sah zu, wie meine Tränen am Fensterglas hinunterrannen: eine Gegenarmee ohne Ziel, mit nichts ausgerüstet als mit
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