Hausers Zimmer - Roman
nicht um uns kümmerten, wenn wir im Zoo waren. Wiebke setzte sich mit einem Buch oder einer Übersetzung auf eine der wackeligen Sitzbänke, Klaus las Zeitung oder hörte Miniradio, und wir ließen uns die nächsten zwei Stunden lang nicht blicken. Zu einer verabredeten Zeit traf man sich am Ausgang. Weder das erwachsene Begleitpersonal (meine Eltern lösten sich mit Anna oder Frau Hülsenbeck ab) noch die Kinderschar interessierte sich besonders für die Zootiere.
Später wunderte ich mich, dass ich als kleiner Biologiefan nicht mehr Begeisterung für die Tiere aufbringen konnte, aber im Raubtierhaus roch es übel, die Robben waren träge, Vögel fand ich blöd, nur Pinguine mochte ich gern. Die waren munter und flink und faszinierten mich mit ihren raschen Kopfsprüngen. Davon abgesehen interessierte ich mich eher für Geographie, für merkwürdige Landschaften. Und nicht für stinkende gekachelte Räume, die wie große Toiletten aussahen.
Hin und wieder gingen wir mit unserer Kombikarte auch ins Aquarium. Mindestens jedes dritte Mal erzählte uns Wiebke, dass Oma Helene ihr als Kind auch die Kombikarte gekauft habe, was mich jedes Mal aufs Neue verwunderte. Denn ich konnte mir das damalige Berlin nicht vorstelle n – mir war nur die Trümmerlandschaft gegenwärtig, wie ich sie auf den vielen bedrückenden Schwarzweiß-Aufnahmen in Bildbänden meiner Eltern gesehen hatte. Doch damals war Wiebke auch schon in den Zoo gegange n – und die Gedächtniskirche war keine Ruine. Und die Mauer gab es nicht, der Alexanderplatz lag in derselben Stadt.
Im Aquarium verschwanden wir, kaum hatten wir die Kassen passiert, in den langen dunklen Fluren. Ich mochte den Zustand permanenter Dämmerung im Aquarium sehr, und auch Falk fühlte sich wohl. Die Tiere guckte er sich fast nie oder aber übertrieben genau an. Entweder er saß irgendwoim Dunklen auf einer Bank und lächelte still und glücklich vor sich hin, oder er hing vor einem Glaskasten mit kopulierenden Fröschen und konnte seinen Blick nicht von ihnen wenden. Andere Besucher, die sich bisweilen über sein Dauerglotzen mokierten, beachtete er nicht.
Das Einzige, was wir uns beide nach Möglichkeit nicht entgehen ließen, war die Krokodilfütterung. Einmal die Woche mittags um eins erschienen zwei Wärter in blauen Overalls auf der kleinen Brücke, die direkt über das Krokodilgelände führte, und warfen Fleischstücke zu den trägen Viechern hinab, die ihre Trägheit blitzschnell ablegen konnten. Dies gefiel Falk ungemein. Vielleicht erkannte er darin sein unberechenbares Verhalten wieder. Einmal hob er mich plötzlich während der Fütterung in die Luf t – und erregte damit die Aufmerksamkeit der Krokodile, die ihre Köpfe, vielmehr: ihre geöffneten Rache n – in meine Richtung drehten und darauf zu warten schienen, dass der nett herumzappelnde Happen aus dem Baum geschüttelt werden würde. Ich schrie wie am Spieß, und Falk erhielt von der Aquariumsdirektion ein halbes Jahr Hausverbot. Ich heulte auf dem ganzen Rückweg und bekam von Wiebke zwei Bonbons auf einmal (Falk: keins).
Seit diesem Vorfall, der nun schon einige Jahre zurücklag, ärgerte Falk mich damit, dass er sich von hinten an mich heranschlich und » The crocodile is coming « flüsterte. Wenn ich dann nicht sofort weglief, biss er mir in den Nacken oder die Schulter. Als Gegenwaffe erfand ic h – ein typischer Fall von David-und-Goliath-Logi k – eben die Ameisenattacke. Überall war ich mit meinen Fingern, in seinen Kniekehlen oder in seinen Rippen, und schneller als er denken konnte, fummelte ich an seinen Nasenlöchern und in seinen Ohren herum. Ich hatte eine sehr effektive Technik entwickelt, die »Kolibritechnik«, die darin bestand, mit meinen Fingern unglaublich rasche unruhige Bewegungen zu machen, eine Mischung aus Kitzeln, Zupfen, Stechen, Pieksen, Krabbeln, kurz: sehr effektives Nerven. Tatsächlich gelang es mir im Laufe weniger Monate, mit meinen Ameisenattacken in Kombination mit der Kolibritechnik die Krokodilangriffe meines Bruders fast vollständig zum Erliegen zu bringen.
Als die anderen nach oben in die Wohnung gingen, stiefelte ich noch zum Rattenloch. Durch die Holzlatten sah ich den Hauser. Er saß mit dem Rücken zu mir auf der Ariel-Tonne, und er war nicht allein.
Direkt neben dem Rattenloch hatte vor einem halben Jahr das Marano aufgemacht, aber Fiona, Isa und ich nannten es Amore , denn an den kleinen Tischen mit dem sanften Kerzenschein saßen, wie uns schien,
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