Hausers Zimmer - Roman
wie Kalender.«
Wir machten also kehrt und gingen zurück zu »unserer« Apotheke. Schon hörte ich die sanfte, melancholische Melodie. Vorn an der Theke stand die blonde Frau mit der randlosen Brille, die mir manchmal Artikel meines Vaters aus der Zeitung vorlas. Vorsichtig stellte ich mich hinter Fiona und Isa auf die Zehenspitzen, um zu gucken, ob Herr Adán da war. Ich entdeckte ihn in einem der hinteren Räume. Er schien ein Medikament herzustellen. Er hielt eine Pipette ins Licht, tunkte sie in eines der Gläser, tauchte sie in eine kleine Schale. Wie viel Macht so ein Apotheker hatte, er handelte mit Heilmitteln und mit Giften, er könnte jemanden umbringen, wenn er es wollt e … Herr Adán bemerkte meinen Blick und schenkte mir ein schwaches, Erschöpfung von der Arbeit andeutendes Lächeln.
»Dit Jungvolk kann ma’ warten«, rief eine dicke alte Frau mit Blick auf uns und stellte sich, massiv wie eine Litfaßsäule, vor die Theke. Sofort erhielt sie die Aufmerksamkeit der blonden Bedienung.
Herr Adán eilte heran. Sein fliegender Kittel kam mir plötzlich wie der Frack eines Zauberers vor.
»Ic h … ich hätte ger n … also für meine Mam a … diese Weleda-Crem e … die, das ist so eine orangene«, stotterte Fiona, die immer aufgeregt war, wenn sie mit Fremden sprach.
»Es gibt mehrere orangefarben e – soll ich sie Ihnen holen, dann erinnern Sie sich vielleicht?«, fragte Herr Adán. Ich spürte, wie ich eifersüchtig wurde, weil er Fiona so lange anschaute.
»Das ist die, die so ähnlich heißt wie ›Kalender‹«, sagt Fiona.
Herr Adán lachte nicht über sie. »Ich weiß, welche Sie meinen.« Statt Fiona schaute er nun mich an und verschwand im dunklen Flur.
Er sah kaum zu Fiona hin, als er ihr die Calendula-Creme reichte, sondern starrte mich an, genauer gesagt: er starrt e – j a – auf meine Brust. Ich war ein wenig irritiert, schließlich wurde ich in der Klasse als »zurückgeblieben« bezeichnet, weil ich noch kaum weibliche Formen hatte.
»Sie tragen aber einen hübschen Anstecker«, sagte der Adán nun.
»Oh! Sie meinen den Grips -Anstecker?« Ich freute mich, dass ihm mein kleiner Kobold gefiel.
»Nein, nein, ich weiß gar nicht, was das is t – Grips ?«
»Ein Theater, hier in Berlin.«
»Ach so, nein, ich meinte die Friedenstaube. Es spricht für Sie, dass Sie solch ein freundliches Symbol tragen. Sie scheinen eine nachdenkliche junge Frau zu sein. Das ist schön.« Er schaute mir in die Augen. »Heute ist es sehr voll hie r – aber ein anderes Mal erzähle ich Ihnen meh r – zum Beispiel warum ich aus Chile hierher gekommen bin.« Dann wandte er sich dem nächsten Kunden zu.
Als wir wieder auf der Straße waren, kicherte Fiona vor sich hin. »Der findet dich gut, der Adán. Guck mal, das ist doch ein reifer älterer Herr.«
Isa, die immer länger nachdachte, bevor sie etwas sagte, nahm mich am Arm und flüsterte mir ins Ohr: »Pass auf dich auf.«
Als ich nachts im Bett lag, dachte ich an Herrn Adán und seine dunklen Augen. Von nebenan hörte ich, wie mein Vater schrieb, innehielt und wieder schrieb. Aber es lag nicht nur am Geklappere und am plötzlichen Verstummen der Uraltschreibmaschine, dass ich nicht schlafen konnte. Wie hieß der höchste Berg Chiles noch mal? Und was passiert gerade, genau in diesem Moment, auf den Falkland-Inseln? Ameisenkribbeln.
Dann stellte ich mich ans Fenster. In diesem Moment leuchtete es auf einmal auf: das orangefarbene Hauser-Rechteck. Der Hauser tanzte allein in seiner Bude herum, trank ein Bier dabei, verschüttete etwas Bier auf seinem Bett, riss das Fenster auf und trank mit nacktem Oberkörper am offenen Fenster weiter. Dann tanzte er in seinem Zimmer herum. Plötzlich ging das Licht aus. Zwei Minuten später leuchtete eine Taschenlampe auf dem Dach des gegenüberliegenden Quergebäudes. Schemenhaft erkannte ich den Hauser. Bald darauf sah ich das hellrote Glühen einer Zigarettenspitze. Der Hauser schien sich hinzulegen. Irgendwann schnippte er die Zigarette nach unten. Ich konnte nichts mehr erkennen.
Ein paar Tage später fragte Klaus meine Mutter beim Frühstück: »Sag mal, hat Herr Kanz eigentlich auch andere Frauen aus unserm Haus angesproche n – auf diese Brustgeschichte?«
»Nein!«, sagte Wiebke, und es klang stolz.
Klaus verließ daraufhin die Küche. Bald hörten wir das übliche Schreibmaschinengeklapper.
Nach der Schule war ich bei Isa. Auch ihr Vater, der Gefängnispsychiater, war da. Isas Mutter und
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