Hausverbot
Endlich kam ich dran. Ich stieg ins Taxi. Ich fuhr nach Sopot zu Anton.
Auf dem Namensschild an der Klingel stand: Asia Lewicka und Anton Krawacki . Aha , dachte ich. Alles klar. Dann nichts wie rein in das Mäuseloch. Ich drückte auf den Klingelknopf. Ich hörte Schritte. Die Tür ging auf. Vor mir stand Anton. Er hatte wieder lange Haare, noch viel längere als früher. Er war jetzt ein richtiger Hippie. Er hatte eine Schürze um. Er war barfuß. Wenn er mich in Hausschuhen empfangen hätte, hätte ich mich gebückt, seine Füße gekitzelt, ihm die Hausschuhe ausgezogen, seine Füße angeleckt, wäre mit den Hausschuhen zum Fenster gegangen, hätte das Fenster aufgerissen und die Latschen mit Schwung rausgeworfen. Schwupp! Weg damit.
Ich musterte Anton von Fuß bis Kopf: Kochst du? Anton nahm mich flüchtig in die Arme: Komm rein . Ich fragte: Soll ich die Schuhe ausziehen? Anton zuckte mit den Schultern . Ich zog die Schuhe aus. Sie waren zu nass. Ich stellte sie auf die Heizung: Bist du alleine? Anton strich sich verlegen übers Haar: Asia besucht ihre Oma. Sie liegt im Sterben. Ich schaute mich in der Wohnung um: Wieso wohnt die denn eigentlich hier? Anton ging in die Küche. Er füllte den Wasserkessel auf: Warum nicht … Du bist doch weggegangen … Viele Leute werfen als Erstes einen Blick in den Kühlschrank, wenn sie zu Hause ankommen. Ich gehe immer als Erstes ins Bad. Auch jetzt tat ich das. Intuitiv. Das Bad war nicht mehr meins. Zu viele Einbalsamierungsfläschchen. Und einen Wäschekorb mit darauf gestapelten, ordentlich gefalteten Handtüchern hätte ich auch nicht gehabt. Ganz schön stylish. Wie auf einem Foto der Zeitschrift ›Schöner Wohnen‹. Eindeutig Asias Werk. Sie sammelte ›Schöner Wohnen‹, wie ich wusste. Sie kupferte daraus irgendwelche gewieften Möbel ab, die sich in den winzigen kommunistischen Bädern unterbringen ließen. Genauso wie ich das früher getan hatte, bot sie diese Möbel als eigene Prototypen auf Volkshandwerkermessen an. Ihre Produkte konnte man in den ›Cepelia‹-Volksläden kaufen.
Die Badewanne war mit Wasser gefüllt. Mehrere Holzstücke lagen darin. Anton malte seine Ikonen auf altem Holz. Das Holz weichte er vor dem Malen in der Badewanne ein. Wenn das Holz einer fertig gemalten Ikone richtig ausgetrocknet war, blätterte die Maloberfläche ab. Anton polierte die abblätternde Farbe. Darauf malte er eine neue Schicht. Anschließend legte er die Ikone für einen Tag wieder in die Badewanne. Wenn er sie dann wieder rausnahm und trocknen ließ, blätterte die Farbe erneut ab. Anton polierte sie nochmals. Er wiederholte den Vorgang so lange, bis keine Farbe mehr von den Ikonen abblätterte. Der Effekt davon war, dass die Ikonen wirklich sehr alt und echt aussahen. Ich rief durch die Tür: Wow! Das Geschäft brummt. Anton hörte mich nicht. Ich verließ das Bad. In der Küche pfiff der Wasserkessel. Anton nahm ihn vom Herd. Er bereitete den Tee zu: Du trinkst doch einen Tee, oder ? Ich setzte mich an den Küchentisch: Gerne, aber mit Schuss, bitte. Anton wühlte im Küchenschrank. Er holte von ganz hinten eine verstaubte Flasche ›Sobieski‹. Er stellte sie auf den Tisch. Ich goss mir in den Tee eine ordentliche Dosis: Das ist bestimmt noch eine von den Flaschen, die von meiner Abschiedsparty übrig geblieben sind. Anton nickte: Schon. Wir trinken keinen Alkohol. Das hätte ich mir doch denken können. Ohne mich lebte er nicht mehr. Mein Kindermädchen lief im Winter barfuß rum und genehmigte sich nicht mal einen. Währenddessen wurde seine Heimat grauer und grauer. Ihre Konturen verblassten. Gefährlich. Der polnische Staat hatte bereits 1795 für rund einhundertzwanzig Jahre zu existieren aufgehört. Jetzt drohte Polen das erneute Verschwinden von der Landkarte. Diesmal wären es aber nicht die Nachbarländer, die sich Polen unter den Nagel rissen. Diesmal verschwand Polen aus der Welt, weil die Menschen hier im Lande so unscheinbar wie Anton geworden waren. Sie rüsteten sich nicht mehr. Sie resignierten. Ohne Schuhe im Winter gaben sie ihr Leben auf. Die Mädchen mit den Streichhölzern starben anonym in Scharen.
Als ich aus Polen weggegangen war, befand sich das Land sowohl politisch als auch wirtschaftlich in einem Tunnel. Vier Jahre später schien der Tunnel in einer Sackgasse zu enden. Die polnische Nation gab es seit einem Jahrtausend. Sie behauptete sich immer wieder gegen die Preußen, die Österreicher, die Russen, die Deutschen, die Sowjets
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