Haut aus Seide
schwerer machen würde, die so vertraut wirkende Gruppe anzusprechen. Sie hatte sich in der engen Toilette des Flugzeugs zwar so frisch wie möglich gemacht, aber jetzt kam sie sich auf einmal wie ein schmuddeliges Häufchen Elend vor. Ein Eindringling. Eine Waise, die niemals jemand adoptieren würde.
Hör schon auf , mahnte sie sich. Selten war sie wütender auf sich selbst gewesen. Es ging hier schließlich nicht um sie. Wenn die Graves wollten, dass sie blieb, dann würde sie bleiben. Und wenn nicht, dann würde sie eben nach Hause trampen. So einfach war das.
Nachdem das geklärt war, umfasste sie ihre Hände und ging auf Simons Mutter zu.
Das ältere Paar entdeckte sie zuerst, und auf ein Zeichen von ihnen drehte Tess Graves sich schließlich um. Lela stockte der Atem. Das Gesicht der Dame sah nicht unbedingt aus, als heiße sie Lela so ohne Weiteres willkommen. Es war von Kummer und dem Wissen um einen bevorstehenden Verlust gezeichnet. Sie wirkte beinahe erschrocken, Lela zu sehen, wusste vielleicht auch gar nicht, wer sie eigentlich war.
»Lela?«, fragte sie schließlich und hielt sich in einer ergriffenen Geste die Hand vor den Mund. »Wie nett, dass Sie gekommen sind, meine Liebe.«
»Entschuldigen Sie«, entgegnete Lela angestrengt und hatte Mühe, die Worte hervorzubringen. »Ich will nicht stören.«
»Unsinn«, widersprach Tess und schloss Lela unversehens in die Arme. Obwohl Simons Mutter zitterte, war ihre Umarmung fest und sicher. »Simon wird sich freuen. Über alle Maßen.«
Sie hielt Lela ein Stückchen von sich weg und wischte über ihre Wangen.
»Wie albern«, sagte sie. »Ich weiß, dass Howard jetzt an einem besseren Ort ist. Und ich weiß, dass wir eines Tages wieder zusammen sein werden.«
Lela schluckte. »Mr. Graves ist von uns gegangen?«
Tess tupfte sich die Nase mit einem Taschentuch und wedelte dann ungeduldig damit durch die Luft. »Er wird nur noch von Maschinen am Leben erhalten. Simon verabschiedet sich gerade von ihm. Und dann werden wir den Ärzten die Erlaubnis geben, sie abzuschalten.« Sie lächelte Lela an. Ihre Augen strahlten wie Diamanten. »Ich bin so froh, dass Sie hier sind. Jetzt muss ich mir keine Sorgen mehr um Simon machen.«
Lela blickte verlegen auf ihre Schuhe. »Ich bin mir nicht sicher, ob Simon mich überhaupt sehen will.«
Tess überraschte sie mit einem atemlosen Lachen. »Darüber würde ich mir keine Gedanken machen, meine Liebe. Wir haben uns alle schon gedacht, was Simon für Sie empfindet. Und jetzt setzen Sie sich.« Sie nahm Lelas Arm und führte sie zu einer Gruppe dunkelgrüner Stühle. »Es könnte eine Weile dauern, bis er rauskommt. Abschiede sind ihm schon immer sehr schwergefallen.« Eine Erinnerung ließ sie erneut auflachen. »An dem Abend, als wir ihn zu uns nach Hause holten, wollte er die Hand meines Mannes gar nicht mehr loslassen. Hat er Ihnen davon erzählt? Fünf Jahre war er damals. Er hatte Haare wie eine Scheuerbürste. Pechschwarz. Und die größten Augen, die ich jemals gesehen hatte. Er glaubte wohl, Howard würde wieder verschwinden, wenn er seine Hand losließe. Das gab ziemliche Schwierigkeiten beim Abendessen. Ganz zu schweigen davon, den Jungen zu baden. Howard war so geduldig. Er hielt Simons Hand, bis er eingeschlafen war, und saß beim Aufwachen sofort an seinem Bett. Die beiden haben sich angebetet. Liebe auf den ersten Blick.«
»Er liebt auch sie sehr«, sagte Lela. »Sie sind die Frau, an der sich alle anderen messen müssen.«
Tess tupfte sich die Augen und lächelte. »Ja, aber er ist schon der Sohn seines Vaters. So war es von Anfang an. Der Gute. Es wird sehr schwer für ihn werden. Ich hoffe, Sie können genug Geduld aufbringen.«
»Für ihn ganz sicher«, sagte Lela, und Tess tätschelte ihr Knie. Die Aufrichtigkeit ihres Versprechens überraschte Lela selbst. Selbst wenn Simon sie nicht liebte und sie einfach nur brauchte, würde sie ihn auf diesem
dunklen Weg begleiten. Lela liebte ihn und konnte seinen Schmerz vielleicht etwas lindern. Und mehr musste sie im Moment auch nicht wissen.
Lela hatte Andrew völlig vergessen. Er fiel ihr erst wieder ein, als er mit mehreren Bechern Kaffee in den Händen um die Ecke kam. Bei ihrem Anblick blieb er wie angewurzelt stehen.
»Lela«, sagte er überrascht; ihm quollen fast die Augen aus dem Kopf. Unter anderen Umständen wäre seine Reaktion äußerst komisch gewesen.
»Den Kaffee hab ich unten auf der Straße besorgt«, erklärte er, als
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