Haut aus Seide
Theorie hält, fällt es leichter, andere Menschen mitzuziehen.«
Gemeinsam liefen sie die Straßen der Einkaufsgegenden ab. Er verriet ihr all seine Geheimnisse – alles, was er durch seine jahrelange Erfahrung bei Graves gelernt hatte. Manchmal war er regelrecht heiser, wenn sie eine Lektion beendet hatten. Simons Benehmen war unerwartet zurückhaltend. Fast so, als hätte ihn nie jemand darum gebeten, sein Wissen zu teilen. Und immer zeugte er den Menschen, die ihn ausgebildet hatten, seinen Respekt. Seine liebste Eröffnung war: »Mein Dad hat immer gesagt …«
Howard Graves war für Simon eindeutig mehr als ein Vater, er war ein Held. Als er und Lela eines Tages am Rockefeller Center vorbeispazierten, erzählte er ihr, wie die beiden sich kennengelernt hatten.
»Ich war fünf Jahre alt«, berichtete Simon. »Und das Waisenhaus war der schrecklichste Ort, den ich je gesehen hatte. Diese Kinder! Als ob sie die schrecklichen Dinge, die ihnen bisher widerfahren waren, aneinander auslassen mussten. Meine Eltern hatten mich geliebt und auch sehr verwöhnt. Ich wehrte mich, hatte aber eigentlich keine Chance. Es gab immer jemanden, der größer war. Bis dann schließlich Howard Graves in mein Leben trat. Er fegte durch dieses Heim wie Superman. Er war riesig. Über eins neunzig. Rotes Haar. Und sein Lachen glich einem Erdbeben. Keines der anderen Elternpaare hatte mich bisher gewollt. Ich war kein niedliches Kind. Und auch kein besonders nettes Kind. Aber Howard sah mich nur einmal kurz an und sagte dann: ›Das ist er. Das ist der Junge, den wir haben wollen.‹«
Die Geschichte war ein Märchen, das Lela selbst nie zu träumen gewagt hatte. Sie drückte Simons Arm. »Ich wette, du warst doch sehr niedlich.«
»Nicht im Geringsten.« Simon lachte. Das Happy End hatte seinen Erinnerungen den schmerzenden Stachel genommen. »Das Personal im Waisenhaus nannte mich immer den Schmolljungen. Und es hieß, meine Augen würden zu sehr glänzen.«
»Du hast wunderschöne Augen«, widersprach Lela, zornig über diese Beleidigung. »Ich liebe deine Augen.«
Er lächelte und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Lelas Herz schwoll an, als ob es ihren Hals ausfüllen wollte. So ist das also , dachte sie. So ist es, wenn man einen Freund hat.
Das Prickeln hinter ihren Augen löste ein Alarmsignal aus, das sie kaum ignorieren konnte.
Wenn Lela nicht aufpasste, würde sie sich in Simon Graves verlieben.
Simon war nach New Orleans gereist, um ein paar Probleme in einem seiner Geschäfte zu lösen. Er hatte Lela eingeladen mitzukommen, aber sie konnte nicht so ohne Weiteres ihrem Job bei Meilleurs Amis fernbleiben. Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten freundeten sie und Nita sich langsam an. Eine von Simons weiblichen Stellvertreterinnen hatte Lela gewarnt, nicht zu intim mit ihren Kollegen zu werden, da der Wechsel von der Freundin zur Chefin sonst zu schwierig würde. Doch es war Lela durchaus gelungen, ein akzeptables Mittelmaß zu finden. Sie merkte deutlich, dass Nita sie mochte, stellte aber auch fest, dass die junge Frau in gewisser Weise zu ihr aufschaute. Sie fing sogar an, Lelas Verhalten bei Verkaufsgesprächen zu kopieren. Als Fran sie deshalb aufzog, konterte Nita, dass sie sich lieber um ihre eigenen Verkäufe kümmern solle – die ihren waren um fünfzig Prozent
gestiegen. »Das Mädchen wird es noch zu etwas bringen«, hörte Lela sie irgendwann sagen. »Und ich will es auch zu etwas zu bringen.«
Die arme, tumbe Therese konnte es gar nicht fassen, welch guten Einfluss Lela auf ihre Kolleginnen hatten. Die Zufriedenheit über ihre Entdeckung hielt sie allerdings nicht davon ab, sogar noch mehr freizunehmen als vorher. Wäre sie nicht so eine Närrin gewesen, sie hätte Lela fast leidgetan. Der Anblick ihres dicken, schwangeren Bauches löste zwar ein gewisses Schuldgefühl in ihr aus, aber Frauen wie Therese – mit ihrem Therapeutenfreund und dem sorgfältig kultivierten Talent, jede Situation zu meistern – landeten eigentlich immer wieder auf ihren Füßen. Würde man sie feuern, würde sie ihre Inkompetenz eben irgendwo anders unter die Leute bringen.
Lela hingegen würde eine gute Chefin sein. Lela würde diesen Laden auf Vordermann bringen. Die Verkäufe waren ja bereits gestiegen. Das wusste sie, weil Therese sie sämtliche Abrechnungen machen ließ.
Aus diesem Grund hatte Lela auch jede Menge positiver Gedanken, die das Grübeln verdrängten. Dennoch wollte die Zeit von Simons
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