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Haut

Haut

Titel: Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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ungerührt an. Jemand sagt: »Ich mache ein Foto«, und man lässt ihn gewähren, dachte Flea. Man lässt ihn gewähren, ob man es will oder nicht, und ehe man sich's versieht, ist dieser Moment - dieser unüberlegte, ungeplante, unkontrollierbare Moment - das einzige Zeugnis eines Lebens. Und dann ist man tot.
    Sie wandte den Fotos den Rücken zu und brach die Schublade auf. Mit lautem Splittern gab das Holz nach. Sie ließ das Eisen klirrend zu Boden fallen und riss die Schublade heraus. Sie war leer.
    Einen Augenblick lang starrte sie sie nur stupide an. »Scheiße, Ruth. Scheiße.«
    Die Katzen zogen sich zurück, duckten sich nervös hinter Sessel und Sofa. Sie warf die Schublade zu Boden, stellte sich mit ausgebreiteten Armen mitten ins Zimmer und betrachtete die vielen Bücherreihen. Wenn Ruth das Foto nicht in der Schublade gelassen hatte, wo war es dann?
    »Komm schon, Ruth. Was, zum Teufel, hast du damit gemacht? Was ist in deinem Kopf vorgegangen?«
    Sie drehte sich um. Ruth hatte die Fotos hiergehabt - sie erinnerte sich, dass sie sie von dem Computertisch genommen hatte. Sie ging hin, öffnete die oberste Schublade, nahm alles heraus und durchwühlte es. Aber da waren nur Zeitschriftenausschnitte und alte Kleiderprospekte. Sie schob das Sofa zur Seite, fegte ein ganzes Bord mit Frauen- und Liebesromanen leer und setzte sich neben dem Bücherhaufen auf den Boden; sie blätterte in den Büchern, schüttelte die größeren und warf sie beiseite. Dann leerte sie das nächste Regalbord und verstreute alles am Boden. Fünf Minuten später waren die Regale leer, und sie stand bis zu den Knöcheln in Büchern.
    Kein Foto.
    Sie erweiterte ihre Suche, und sie beeilte sich. Das Haus war klein, und das Einzige, was sie im Erdgeschoss fand, war eine Teekiste mit gerahmten Fotos: Hochzeitsbilder von Mr. und Mrs. Lindermilk, Schwarzweißfotos eines Babys, aber nicht das Foto, das sie suchte. Sie rannte die Treppe hinauf, nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal und zog sich am Geländer zu dem kleinen Absatz empor. Da stand eine Truhe an der Wand. Sie öffnete sie und riss alles heraus, was sich darin befand: Kleider, Hüte, Tücher. Nichts. Sie schwitzte, als sie in die Schlafzimmer stürmte und Kommodenschubladen durchstöberte, unter die Kopfkissen schaute und sogar in den Taschen der Mäntel in den Kleiderschränken nachsah. Sie war im vierten Zimmer und hatte eben den Inhalt von vier Einkaufstaschen auf das Bett gekippt, als sie ihn sah.
    An der Wand über dem Bett. Das, was sie sofort hätte suchen sollen. Sepiafarben, ungefähr so groß wie eine Schallplatte: ein kleiner Wandtresor.
    »Oh, Ruth«, murmelte sie. »Das hast du nicht getan, oder?«
    Sie kannte die Antwort: Natürlich hat sie es getan, natürlich hat sie es da hineingelegt. Sie wusste, wie viel es dir wert war, und sie wusste auch, dass du so etwas versuchen könntest.
    Sie richtete sich auf, ging zu dem Safe und zog an der Tür. Sie war verschlossen. Nichts aus dem Knacksack würde dieses Ding öffnen. Nur der Brennbohrer würde ihr hier helfen. Und der lag noch im Auto unten an der Straße. Sie drehte das Zahlenrad hin und her und schlug frustriert mit dem Stemmeisen gegen den Safe. Und schlug noch einmal zu. Dann hielt sie inne, stand still da und lauschte. Da war ein Geräusch. Vorn vor dem Haus.
    Jemand da draußen hatte eben Ruths Gartentor geöffnet.
    Lautlos schlich sie zur Treppe und spähte über das Geländer.
    Eine Sekunde verging. Noch eine.
    Schritte. Jemand ging um das Haus herum nach hinten. Flea geriet in Panik. Sie lief die Treppe hinunter und in die Küche, wo die Vorhänge immer noch geschlossen waren. Die Schritte hatten aufgehört.
    Wer immer es sein mochte, er musste auf der Terrasse sein. Sie sammelte ihre Ausrüstung ein und zählte hastig die Stücke: eins, zwei, drei, vier, fünf. Stopfte alles in die Tasche, zog den Reißverschluss zu, warf sie sich über die Schulter und ging in die Diele.
    Jemand schob einen Schlüssel in die Haustür. Mit leisem metallischem Klirren drehte er sich einmal. Dann hörte sie das Rascheln des Zugluftstoppers, der über die Fußmatte strich.
    Sie zog sich in die Küche zurück und blieb einen Moment stehen, um nachzudenken. Vor ihr, hinter dem Vorhang, war das zerbrochene Fenster. Nein. Es würde zu lange dauern, da hinaufzuklettern und hinauszuspringen. In der Diele wurde die Haustür geschlossen. Sie öffnete den Backofen und schob die Tasche hinein, ging zu dem hohen Kühlschrank, drehte

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