Haut
hätte. Aber alles war fest verriegelt, wie man es bei Ruths Paranoia erwarten konnte. Die Fenster im Erdgeschoss hatten kleine Ausstellflügel, die leicht zu knacken wären; sie ging zu denen an der Küche und betrachtete sie. Wenn sie sich recht erinnerte, befanden sich darunter die Spüle und die Geschirrspülmaschine. Die Spüle war ein großes Steingutbecken. Solide. Sie würde ihr Gewicht tragen.
Sie zog Handschuhe an und wühlte aus ihrem Arsenal unter den großen Geräten das kleinste Werkzeug heraus, einen winzigen, federbetriebenen Körner. »Glasgower Schlüssel« nannten sie ihn. Er war ohne Kraftaufwand zu verwenden und schlug nur mit einem leisen Klicken gegen die Scheibe. Ein scharfes Knacken - und dann breitete sich ein Spinnennetz von Rissen über die Scheibe aus. Es war kein lautes Geräusch, aber trotzdem hielt sie den Atem an und sah sich um. Im Garten rührte sich nichts - kein Lufthauch, kein raschelndes Tier. Nur der ferne Ton des Fernsehers wehte durch die Luft.
Sie schob die Zunge zwischen die Zähne, zog die Glasscherben aus dem Rahmen und wischte die Kanten mit einem Tuch ab. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, waren Blutspuren, forensisches Material, das sie mit diesem Einbruch in Verbindung brachte. Als alles sauber war, zog sie den Ärmel ihres Sweatshirts über die Hand, schob den Arm durch das Fenster und tastete nach dem Riegel. Sie fand ihn und versuchte ihn zu bewegen. Er war abgeschlossen. Sie tastete weiter herum und fand den zweiten. Auch er war abgeschlossen, und der Schlüssel steckte nicht. Sie wich zurück und fluchte vor sich hin. Dann eben die kleine Brechstange. Das klappte einwandfrei; das Eisen passte genau unter die Schlösser. Das erste sprang nach dem zweiten oder dritten Versuch heraus, das zweite sofort. Splitter prasselten auf den Boden.
Sehr vorsichtig öffnete sie das Fenster und hob die Werkzeugtasche hinein. Die Vorhänge waren wie immer geschlossen, aber es brannte kein Licht. Nur das grüne Lämpchen am Boiler leuchtete, und die kleine Pilotflamme flackerte blau. Es roch nach Katzen und Essen - Lasagne oder so etwas. Hatte sie, als sie es in die Mikrowelle stellte, gewusst, dass es das Letzte war, das sie in ihrem Leben zu sich nahm? Flea hatte kein gutes Gefühl bei diesem Selbstmord. Irgendetwas stimmte nicht. Am Telefon hatte Ruth gestern noch ganz munter geklungen. Sogar vergnügt.
Nicht jetzt. Jetzt nicht darüber nachdenken. Sie zog die Ärmel zurück und stemmte sich zum Fenster hinauf. Ihre Arme zitterten. Sie arbeitete daran - sie trainierte an den Gewichten, so oft sie konnte -, aber auch unter günstigsten Umständen besaß sie im Oberkörper nicht die Kraft, die sie für ihren Job brauchte. Und in letzter Zeit hatte sie keine Gelegenheit zum Training gehabt und zu wenig gegessen, und so war es noch schlimmer geworden. Sie musste sich plagen, um auch nur ihr eigenes Gewicht in die Höhe zu stemmen.
Sie kippte über die Fensterbank ins Halbdunkel, warf eine Flasche Spülmittel um und landete auf dem schmutzigen Geschirr im Spülbecken. Irgendetwas fiel herunter und zerbrach. Sie ließ sich auf den Boden nieder und sah, dass ihre Hose nass war. Wasser tropfte auf die Erde, die an ihren Schuhen klebte, sodass sie einen perfekten Fußabdruck auf den Fliesen hinterließ. Sie verwischte ihn mit dem Absatz und reinigte die Schuhe mit einem Küchenhandtuch vom gröbsten Schmutz. Im Schrank unter der Spüle fand sie Gefrierbeutel aus Plastik. Daran hätte sie eher denken sollen. Sie streifte zwei davon über ihre Turnschuhe.
Das Wohnzimmer machte einen gespenstischen Eindruck. Nur das Licht von dem zerbrochenen Küchenfenster fiel auf Ruths Sachen: auf Bücher, Fotos, Papierstapel und leere Gläser. Ein großes Glas Coke stand auf einem Beistelltisch neben einer geöffneten Flasche Champagner. Katzenaugen glühten in allen Ecken.
Sie ging zu dem Sekretär, in den Ruth das Foto gelegt hatte, und zog an der Schublade. Noch immer abgeschlossen - und kein Schlüssel. Oberflächlich suchte sie den Sekretär nach dem Schlüssel ab, schaute in einen kleinen Pappmachebecher und schob die Finger in eine Schreibtischschale voller Büroklammern. In der Eile fielen ein paar herunter, aber sie ließ sie liegen - es war unwichtig. Dass hier jemand eingebrochen war, konnte man sowieso nicht vertuschen. Sie nahm das kleine Stemmeisen aus der Tasche und schob es in den Spalt über der Schublade. Von dem Foto an der Wand starrten Ruth Lindermilk und ihr Sohn sie
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