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Haut

Haut

Titel: Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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zog sie Handschuhe und Maske an und ging zum Kofferraum. Sie atmete ein paarmal tief durch, wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und klappte den Deckel hoch.
    Die Leiche war noch da. Ja, was dachtest du denn? Dass sie aufsteht und davonspaziert? Sie trat einen Schritt näher, zwang sich hinzuschauen. Ihr Atem rasselte laut in der Maske.
    Die Frau schien nicht sehr alt zu sein - Mitte zwanzig vielleicht, mit hübsch manikürten Fingernägeln, gesträhntem Haar und teuer aussehenden goldenen Ohrringen. Ihr Arm war über das Gesicht gelegt, als wollte sie sich schützen. Der Stoff ihrer Jacke war in den Mechanismus des Kofferraumverschlusses geraten. Flea betrachtete sie eingehend und fragte sich, was daran so wichtig war. Wo hatte sie diese Jacke schon gesehen? An einer von Thoms Freundinnen vielleicht?
    Sie hob den Ellbogen der Frau und achtete darauf, dass sie die Kleidung nicht verschob. Keine Verletzungen auf dieser Seite des Gesichts. Eine lange Schramme an der Innenseite des Arms. Mit dem Zeigefinger drückte sie sich die Maske fest an die Nase, beugte sich über die Tote und inspizierte die Schramme. Da war etwas in die Haut eingegraben. Etwas Dunkles, Hartes, kleine Steine vielleicht. Oder Asphalt. Eine Idee begann in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen.
    Sie ließ den Arm der Frau vorsichtig sinken und ging am Wagen entlang nach vorn. Der Focus hatte ihren Eltern gehört, und alles, was ihnen im Leben wichtig gewesen war, hatte mit dem Erleben der Welt zu tun und nichts mit schönen Autos: Der Wagen war ramponiert und abgenutzt. Trotzdem hockte sie sich vor den Scheinwerfer, um sich zu vergewissern; sie war sicher, dass diese Delle nicht da gewesen war, bevor Thom sich den Wagen ausgeliehen hatte.
    Sie untersuchte sie gründlich. Sie hatte schon viele Autounfälle gesehen. Erst vor einem Monat hatte man sie morgens um zwei aus dem Bett geholt, damit sie eine Tote aus einem Autowrack schnitt: Eine sechsunddreißigjährige Frau, Mutter dreier Kinder, hatte ihren Wagen auf eine Autobahnleitplanke gespießt. Sie war unverletzt, aber im Wagen eingeklemmt wie eine Sardine in der Dose. Das Feuer, das im Motor ausgebrochen war, hatte sie bei lebendigem Leibe gegrillt. Flea war diejenige gewesen, die den hautlosen Leichnam aus dem Wrack gezogen und in den Van der Rechtsmedizin gebracht hatte. Niemand hatte das Offenkundige ausgesprochen: dass sie mit ihrer komplett freigelegten Muskulatur aussah wie ein Demonstrationsobjekt für den Anatomieunterricht. Ja, Flea wusste, was ein Auto mit einem menschlichen Körper anstellen konnte. Und was ein menschlicher Körper an einem Auto anrichten konnte, wusste sie auch.
    Sie richtete sich auf, ging um den Focus herum zur anderen Seite und suchte Türschwellen und Türen nach Auffälligkeiten ab. Sie inspizierte Motorhaube, Räder und Fenster, ohne etwas anzufassen. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, und sofort entdeckte sie, was sie gesucht hatte. Auf dem Dach über dem Fahrersitz war eine verbeulte Stelle von gut einem halben Meter Durchmesser, und mittendrin klebte eine kleine, halbmondförmige Blutkruste. Vor ihrem geistigen Auge sah Flea, wie ein Mensch durch die Luft flog, im Mondschein einen Salto schlug, auf das Dach krachte und dann auf der Straße landete, wo Sandkörner und Asphalt sich in die Haut gruben.
    Thom war in dieser Nacht betrunken gewesen.
    Sie kehrte zum Kofferraum zurück und schob die Hände in die Taschen am Kleid der Toten. Leer. Die Jackentaschen ebenfalls. Aber dann schlossen sich ihre Hände um etwas anderes, das unter der Hüfte der Frau klemmte. Spröde und kühl fühlte es sich an. Sie wandte den Kopf zur Seite, denn jedes Mal, wenn sie die Leiche bewegte, stieg ihr der Verwesungsgestank in die Nase. Sie fasste den Gegenstand mit Daumen und Zeigefinger und zog vorsichtig daran. Zu ihrer Überraschung ließ er sich leicht bewegen; er schleifte nur kurz unter dem Stoff und kam dann so schnell zum Vorschein, dass sie fast einen Schritt rückwärts gemacht hätte.
    Es war eine Handtasche mit verschlungenen Nähten. Große, facettierte Pailletten baumelten daran und funkelten im Licht. Das Design und das Naturfasergewebe des Bodens ließen sie teuer aussehen. Flea öffnete die Schließe und spähte hinein.
    Der Inhalt bestand hauptsächlich aus Kosmetikartikeln: eine Tube Benefit-Abdeckcreme mit dem Bild eines Fünfziger-Jahre-Mädchens am Telefon, ein Puderkissen mit Hard-Candy-Body-Shimmer, ein Chanel-Lippenstift im Farbton »Boudoir« -

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