Haut
Angst?«
Der Walking Man schwieg eine Zeit lang und dachte nach. Er schöpfte das Essen auf die Blechteller und streute frische Kräuter darüber, die er im Lauf des Tages gesammelt hatte. Die Mahlzeiten an seinem Lagerfeuer gehörten zum Besten, was Caffery je gegessen hatte - einfach und immer dampfend heiß. Der Walking Man verteilte alles auf die Teller, holte Gabeln hervor und reichte Caffery einen der Teller.
Caffery nahm ihn und fragte noch einmal. »Hätten Sie Angst?«
»Keine Ahnung.« Der Walking Man setzte sich und ließ den Dampf des Essens in seine Nase steigen. Sein Mund stand leicht offen wie bei einem Hund, der Witterung aufnimmt. »Haben Sie Angst?«
»Ich weiß nicht, was es - was er will. Ich weiß nicht, wozu er fähig ist.«
Der Walking Man nahm einen Bissen auf die Gabel, schaute Caffery listig an und lächelte halb. »Was ist? Warum lächeln Sie?«
Der Walking Man zeigte mit dem Messer auf ihn. »Ich lächle über Sie. Darüber, dass Sie nichts loslassen können. Dass Sie Ihren Beruf als Buße betrachten.«
»Als Buße? Buße wofür?«
»Das wissen Sie.«
»Reden Sie schon wieder von Ewan?«
»Natürlich rede ich von Ihrem Bruder. Sie büßen immer noch dafür, dass er so gestorben ist und Sie nicht. Diese Buße hat Ihre Mutter immer von Ihnen verlangt. Und das ist der Hauptgrund, weshalb Sie tot bleiben können.«
Erst wenige Tage zuvor hatte der Walking Man ihm gesagt, er habe die Chance, zwischen Leben und Sterben zu wählen. Er könne weiterhin Ewan folgen, dem Kind, das verschwunden war, indem er alles nur in seine Arbeit steckte. Oder er könne sich »dem Kind, das sein könnte« widmen. Dem Kind, das sein könnte. In den letzten Tagen hatte Caffery immer wieder über diese Worte nachgedacht. Es gab keine Kinder in seinem Leben, und es würde niemals welche geben. So war es in sein Herz eingeprägt. Es war besser, nie welche zu haben, als zu riskieren, dass man sie verlor.
»Wenn Sie ein Kind haben, dann gibt es eine Verbindung zwischen Ihnen und diesem Kind, die niemals unterbrochen werden kann. Im Augenblick ist das einzige Kind, zu dem Jack Caffery eine Verbindung hat, ein totes Kind. Deshalb sind Sie verbunden mit dem Tod. Aber Sie und ich wissen, für Sie könnte es ein Kind geben, das lebt. Wir wissen es beide. Hören Sie auf, den Tod anzuschauen, Jack Caffery.« Der Walking Man wischte mit dem Finger über seinen Teller und leckte ihn sorgfältig ab. Dann stellte er ihn auf den Boden und schaute versonnen erst zu den Sternen hinauf und dann hinüber zu den Bäumen, als befände sich dort etwas, etwas, das sie beide beobachtete. »Wenn Sie aufhören, den Tod anzuschauen, wird der Tod aufhören, seine Dienerinnen auf die Suche nach Ihnen zu schicken.«
27
In dem Zimmer ist es so warm, dass der Mann nichts anhat. So ist es einfacher. Weniger schmutzig. Er steht geschäftig an einer Werkbank und zieht einem Kaninchen das Fell ab. Er reißt die Haut vom Fleisch, bis sie nur noch an den Füßen, am Schwanz und am Kopf hängt. Mit einem schweren Küchenbeil aus Damaszenerstahl schlägt er die Pfoten und den Schwanz ab.
Bei einem Tier ist das Häuten weniger mühsam als bei einem Menschen. Das liegt daran, dass in der subkutanen Hautschicht eines Tiers weniger Fett enthalten ist.
Er schneidet den Hals des Tiers auf, bis die Wirbel zutage treten. Sie sehen aus wie kleine, verschmierte Zähne. Mit einer schnellen Drehung löst er Kopf und Wirbelsäule ab und zieht das kleine Fell mit den beschwerten Enden herunter. Er drückt den Finger darauf und reibt darüber hinweg, sodass die silbrigen äußeren und inneren Faszien aneinander auf und ab gleiten. Dann beugt er sich vor und schnuppert daran, lässt den Geruch durch die Nasenlöcher in die Kehle dringen, wo er sich sammelt. Es ist ein einfacher Geruch, holzig und bitter. Ganz, ganz anders als der Geruch einer menschlichen Haut.
Er richtet sich auf, hebt die Haut mit einem Finger hoch und lässt sie kurz über dem Mülleimer baumeln. Dann wirft er sie hinein.
Tierhaut ist immer so. Eine Enttäuschung. Selbst wenn man sie in Lauge einweicht, enthaart und aufzieht, ist sie nie das Wahre. Aber die Haut interessiert ihn auch nicht. Nicht sie, sondern der Vorgang an sich ist es, den er braucht. Das reißende Gefühl, wenn die untere Hautschicht sich von dem darunterliegenden Muskel löst.
Mindestens einmal in der Woche häutet er ein Tier. Öfter, wenn seine Unruhe besonders groß ist.
In dieser Woche hat er es fünfmal
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