Hautnah
sie hatte nicht ein einziges Mal das Gackern eines Huhns oder das Krähen eines Hahns gehört. Und selbst wenn – dieses winzige Ding wäre allein wohl kaum sehr weit gekommen. So wie sein Hals abgeknickt war, musste es von etwas getötet worden sein, das größer war als es selbst.
Unwillkürlich dachte Lara an Hund. Es gab keine konkreten Beweise, und doch hatte sie ihn bereits im Verdacht, der entflohene Larssen-Hund zu sein. War dies eine Art hündisches Friedensangebot, weil er wusste, dass sie ihn enttarnt hatte?
Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. Trieb dieses Haus sie langsam, aber sicher in den Wahnsinn?
»Ja, armer Babyvogel«, sagte sie, nahm ihren Sohn auf den Arm und öffnete die Tür.
»Hallo?«, rief sie von der Schwelle aus, in der Hoffnung, dass wenigstens Olly da wäre. Stattdessen empfing sie das Haus mit seiner ganz eigenen, drückenden Leere und Fäulnis. Einzig das Summen des alten Kühlschranks, der versuchte, sich selbst am Überhitzen zu hindern, durchbrach die Stille. Sie sah zu der Stelle auf dem Fußboden im Flur hinüber, wo der Fleck gewesen war. Sie hatte ganze Arbeit geleistet. Man hätte niemals geahnt, dass dort etwas Schreckliches passiert war.
Beim Hineingehen trat Lara versehentlich auf einen Brief, der auf der Fußmatte lag. Sie wusste gleich, dass er für sie bestimmt war, weil der Absender ihren Namen in Großbuchstaben mit grüner Tinte auf den Umschlag geschrieben hatte. Er roch nach schalem Zigarettenrauch. Im Umschlag steckte ein Zettel, auf dem in derselben eigenartigen Druckschrift und ohne Satzzeichen Folgendes geschrieben stand:
HEY KÜKEN FREU DICH NICHT ZU FRÜH LASS DIE FINGER VON SM .
Laras Wangen brannten. Jemand wusste von ihr und Stephen. Aber wer? Die einzige Person, die möglicherweise etwas ahnte, war Betty. Lara wusste nicht viel über sie, aber solche Abscheulichkeiten waren ganz gewiss nicht ihr Stil.
Sie setzte Jack an ihren Laptop, damit er ein Spiel auf der C-Beebies-Website spielen konnte. Dann nahm sie ein Bier aus dem Kühlschrank und ging nach draußen, wo sie sich auf die Veranda setzte, nachdachte und das tote Küken anstarrte, als könnte es ihr eine Antwort auf ihre Frage liefern.
Alles wurde immer verworrener: die gestohlene Wäsche; der Streifenhörnchen-Vorfall; die Geisteskranke, die sie um ein Haar überfahren hätte; die Larssen-Geschichte; Bella, die den Kopf verlor; Olly, der sich mit zwielichtigen Freunden herumtrieb.
Einen Moment lang sah sie die Lösung gestochen scharf vor sich: Sie würde mit den Kindern nach Hause fliegen, und Marcus würde bleiben. So konnte er in Ruhe arbeiten, ohne dass ihm seine Familie im Weg war. Und wenn er dann im September zurück nach England kam, würde sie die Sache auf die eine oder andere Weise entscheiden, je nachdem, was die räumliche Trennung in ihr bewirkt hatte. Ohne die alles verkomplizierende Anwesenheit von Stephen.
Sobald er in ihrer Nähe war, konnte sie nicht mehr klar denken.
Aber noch während sie über die Idee nachsann, wurde ihr bereits klar, dass sie es niemals tun würde. Denn dann würde sie Marcus ihre Abreise irgendwie erklären müssen; Bella und Olly würden Fragen stellen, und es war durchaus denkbar, dass sie ganz einfach sagen würden, sie wollten lieber bei ihrem Vater bleiben. Und das kam auf keinen Fall in Frage.
Doch der wahre Grund, weshalb sie nicht abreisen würde, war genau der, aus dem sie eigentlich hätte abreisen sollen .
Sie würde nicht tun, was diese hinterhältige kleine Botschaft von ihr forderte. Sie konnte die Finger nicht von SM lassen. Dazu war es nun zu spät.
Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und rieb sich den Nacken. Sie sah zu den Häusern mit ihren blinden Fenstern hinüber und fühlte sich beobachtet. Es war furchtbar. Im Rücken spürte sie die drückende Last des Larssen-Hauses mit seinem ganzen Elend.
Weil sie es nicht länger aushielt, stand sie auf und ging zum Schuppen hinter dem Haus, wo die Kolibris wie immer den Futterspender umschwirrten, als hätte sich seit jenem ersten Morgen, als sie ihnen zugesehen hatte, nicht das Geringste geändert. Sie stieß die mit Spinnweben verhangene Tür des Schuppens auf und spähte vorsichtig ins dunkle, nach Teeröl riechende Innere.
Bis auf einige Blumentöpfe und einen Spaten – genau das, wonach sie gesucht hatte – war der Schuppen leer. Sie nahm den Spaten, ging um den Schuppen herum und hob im struppigen Gras ein kleines Grab aus. Dann kehrte sie zur
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