Hautnah
mehr zu nahe kommen konnte. Danach ist er hierhergekommen. Er hat bei uns gewohnt und sich gleichzeitig nach einem Haus umgesehen. Wir haben unseren gesamten Alkoholvorrat hinten in der Scheune versteckt und nur getrunken, wenn er nicht zu Hause war. Kannst du dir das vorstellen? Wie zwei ungezogene Teenager.«
»Und das Küken? Und der Brief?«
Betty beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Ich weiß nicht, wie es ihr gelungen ist, aber sie muss ihn aufgespürt haben.« Sie nahm den Brief wieder in die Hand und wedelte damit vor Lara in der Luft herum. »Das ist zu einhundert Prozent ihr Stil – wenn das Wort nicht zu viel der Ehre ist. Wir haben getan, was wir konnten, um ihn zu verstecken, aber offenbar ist sie ihm auf die Spur gekommen. Haben deine Kinder irgendwas ausgeplaudert?«
»Nein«, erwiderte Lara und hoffte, dass sie damit recht hatte. »Sie sind vernünftig. So was würden sie nicht machen. Ihnen ist klar, dass Stephen vorsichtig sein muss.«
Betty lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Lara. Sie konnten hören, wie Jack draußen in der Halle mit den Kätzchen redete.
»Außerdem«, fuhr Lara fort, »war da diese Frau, die uns beobachtet hat, als wir von eurer Party kamen, direkt nach dem Wiedersehen mit Stephen. Erinnerst du dich noch – diese komische Frau im Diner? Ich glaube, es war dieselbe.« Dann erzählte Lara Betty noch von dem Vorfall im Waschsalon. »Du fandest sie doch auch irgendwie merkwürdig, oder?«
»Ich habe Sanders nie mit eigenen Augen gesehen«, erklärte Betty stirnrunzelnd. »Und du hast recht, bei dieser Frau im Diner hatte ich kein gutes Gefühl. Aber ich hätte niemals gedacht …« Sie verstummte und schloss die Augen. Ihre langen Wimpern warfen dünne Schattenstriche auf ihre Wangen. Lara konnte fast hören, wie ihr Gehirn arbeitete.
»Folgendes, Schatz«, sagte Betty schließlich, während sie ihre wunderschön manikürten Fingernägel betrachtete. »Es gibt zwei Dinge, die du jetzt tun musst.«
»Und zwar?«
»Erstens, und das ist das Allerwichtigste: Stephen darf auf keinen Fall erfahren, dass Elizabeth Sanders ihm hierher gefolgt ist.«
»Was soll das denn bezwecken?«
»Er ist sensibler, als du denkst, Liebes. Wenn er davon erfährt, dann wird ihn das umbringen. Ich habe damals hautnah miterlebt, wie verzweifelt er war.«
»Aber sie wird nicht einfach so wieder verschwinden«, gab Lara zu bedenken. »Oder?«
»Nein. Und das ist der Punkt, an dem du ins Spiel kommst.« Erneut lehnte Betty sich über den Tisch. »Ganz offensichtlich hat sie dich aufs Korn genommen. Ich möchte, dass du versuchst, herauszufinden, wer sie ist und wie sie aussieht. Du musst Beweise sammeln wie ein Detektiv. Und dann, wenn wir genug gegen sie in der Hand haben, gehen wir zur Polizei, und der Fall wird erledigt sein, bevor Stephen auch nur etwas ahnt.«
»Aber ist sie nicht gefährlich? Was ist mit uns?«
Betty fixierte sie mit strengem Blick. »Lara, es geht hier um Stephen Molloy.«
Lara runzelte verblüfft die Stirn. Betty hatte Stephens Namen ausgesprochen, als wäre er eine Art Gottheit. Als müsste Lara bereit sein, alles für ihn zu opfern.
»Und nun zur zweiten Sache«, fuhr Betty fort.
»Zweite Sache?«
»Ich habe doch gesagt, dass es zwei Dinge gibt, die du tun musst, schon vergessen, Liebes?«
»Ich höre.« Lara spürte, wie ihre Wangen glühten.
»Es ist von elementarer Wichtigkeit, dass Macbeth ein Erfolg wird. Für das Theater, für James, für mich, für Marcus. Das heißt, nicht nur darfst du Stephen kein Sterbenswörtchen davon verraten, dass seine kleine Erzfeindin wieder aufgetaucht ist, ich möchte dir außerdem dringend ans Herz legen, in deinem Umgang mit ihm ein gewisses Maß an Zurückhaltung walten zu lassen.«
»Umgang?«
Betty sah Lara an. Jeder Rest Wärme war aus ihren Zügen verschwunden, so dass man ihr zum ersten Mal ihr wahres Alter ansah. »Ich will nicht, dass du Marcus in irgendeiner Weise aus dem Gleichgewicht bringst, bis die Vorstellungen vorbei sind. Haben wir uns verstanden? Falls doch, dann bekommst du es mit mir zu tun, und glaub mir, ich nehme keine Gefangenen.«
Lara schob ihr halb ausgetrunkenes Glas Eistee von sich und sah Betty an. Sie war also aufgeflogen, und zur Strafe hatte man ihr jeden letzten Rest Selbstbestimmung und Sicherheit weggenommen. Sie musste daran denken, wie sie sich als Kind gefühlt hatte, als ihre Meinung nie gezählt hatte; wie ihre Eltern aus ihrer
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