Hautnah
Veranda zurück und nahm das tote Küken auf den Spaten, wobei sie achtgab, es nicht noch weiter zu beschädigen.
Sie trug das Küken zum Grab und ließ es vorsichtig hineingleiten. Der Anblick, wie es leblos in der roten Erde lag, bestärkte sie in der Überzeugung, dass sie die Sache mit Stephen bis zum Ende durchstehen musste. Das Leben war kurz, und in ihr meldete sich der erschreckende Gedanke, dass sie bereits sechzehn lange Jahre davon vergeudet hatte.
Vergeudet war vielleicht ein wenig übertrieben. Aber dennoch …
Sie sprach ein Gebet für das Baby, dessen Leben sie ein Ende gesetzt hatte, und bedeckte das Küken mit einem Häufchen Erde. Sie pflückte eine Chrysantheme von einem verkümmerten Busch, der in einem der unkrautüberwucherten Blumenbeete hinter dem Schuppen wuchs, und steckte sie in die frisch aufgeworfene Erde. Während sie am Boden kniete, wurde ihr klar, dass sie Stephen anrufen musste.
Sie eilte ins Haus und wählte seine Handynummer, aber es sprang sofort die Mailbox an – nicht weiter überraschend in einer Gegend mit derart lückenhafter Netzabdeckung. Als Nächstes versuchte sie es auf seinem Festnetzanschluss, aber dort klingelte und klingelte es nur, ohne dass jemand abnahm. Sie stellte sich vor, wie die Telefonklingel in seinem kühlen, hohen Wohnzimmer widerhallte. Es gab keinen Anrufbeantworter, aber sie hätte ohnehin keine Nachricht hinterlassen, weil sie gar nicht wusste, was sie sagen sollte.
Jack war nach wie vor glücklich in sein Computerspiel vertieft, doch Lara war verzweifelt. Sie musste unbedingt mit jemandem reden. Aber mit wem? Gina konnte sie nicht anrufen, weil sie ihr gegenüber Stephen nicht erwähnen durfte. Die Einzige, die ihr einfiel, war Betty. Sie tippte die Nummer des Farmhauses ins Telefon und wartete fünfzehn Klingeltöne ab. Sie wollte gerade auflegen, als sich eine atemlose Stimme meldete. »Hallo?«
»Betty?«
»Lara, bist du das?«
Hastig berichtete Lara ihr von dem Küken und der Nachricht. Betty bat sie, alles genau zu beschreiben – die Farbe der Schrift, die großen Druckbuchstaben.
»Hast du Stephen schon davon erzählt?«
»Nein, noch nicht. Ich kann ihn nicht erreichen.«
»Gut. Kein Sterbenswörtchen zu ihm, Liebes. Ich möchte, dass du jetzt gleich zu mir nach Hause kommst, dann können wir uns darüber unterhalten. Ich habe Eistee im Kühlschrank. Bring den Brief mit, damit ich ihn mir ansehen kann.«
»Aber ich habe Jack dabei.«
»Das ist doch kein Problem, mein Täubchen. Ich habe genau das Richtige, um ihn zu beschäftigen.«
Nach einer kurzen Verzögerung, da Jack, der es geschafft hatte, sich vorn vollständig mit Eiscreme zu bekleckern, eine Ganzkörperwäsche benötigte, hielt Lara am Weg neben dem Farmhaus.
»Hallo«, rief sie und klopfte an die Küchentür.
»Da seid ihr ja!«, kam Bettys Stimme aus dem Garten hinter Lara. »Ich dachte schon, ihr hättet euch verfahren.« Sie tauchte hinter den Tomatenstauden auf und kam, einen flachen Korb in der Armbeuge, über den Weg zwischen den Gemüsebeeten auf sie zu. Seit ihrer Begegnung im Theater hatte Betty sich umgezogen und trug nun einen seidenen Kimono zu abgeschnittenen Shorts. Sie hatte sich die Haare zurückgebunden, war aber nach wie vor vollständig geschminkt.
»Da unten ist Trudi. Trudi, sag hallo zu Lara und Jack«, rief Betty. Hinter einem Dickicht aus Stachelbeersträuchern kam die gedrungene obere Hälfte der sonderbaren, vernarbten Frau zum Vorschein. Sie hob eine Hand zum Gruß, bevor sie sich wieder über ihre Arbeit beugte. »Schau dir diese kleinen Goldstücke an.« Betty nahm eine winzige kugelrunde Tomate aus ihrem Korb und steckte sie Lara in den Mund.
»Köstlich«, sagte Lara.
»Pass auf, Jack, möchtest du mal etwas ganz Besonderes sehen?«, fragte Betty und ging in die Hocke, damit sie mit ihm auf Augenhöhe war.
»Die Fische?«, fragte Jack und machte große Augen.
»Noch besser als die Fische.«
Jack nickte und nahm Bettys Hand. Sie führte ihn ins Haus zu einer Nische unter der Treppe.
»Schau mal«, flüsterte sie und ließ sich, aufs Treppengeländer gestützt, auf die Knie nieder. Jack tat es ihr nach. Er reckte den Hals, um besser sehen zu können, und stieß einen Laut der Verzückung aus.
Im Schatten der Treppe stand ein Korb mit kleinen Kätzchen. Sie hatten das Ratten-Stadium hinter sich und sahen aus wie flauschige Fellkugeln. Betty nahm eins der Tiere auf den Arm und hielt es Jack hin. Dieser schaute fragend zu seiner
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