Hautnah
von selbst auf einer Seite, die besonders oft angeschaut worden zu sein schien. Als Lara hinsah, durchzuckte sie ein Schreck des Wiedererkennens. Das Bildnis einer Frau namens Nancy, die zusammen mit zwei Säuglingen auf einem Bett lag, hätte ebenso gut sie selbst mit ihren Zwillingen darstellen können, früher, als sie noch klein gewesen waren. Es war nicht nur die rein äußerliche Ähnlichkeit, obwohl diese allein schon bemerkenswert war. Der Blick in den Augen der Frau – als wären zwei kleine Ungeheuer ohne Vorwarnung in ihr Leben geplatzt und hätten Besitz von ihr ergriffen – drückte genau das aus, was Lara in der ersten Zeit nach der Geburt ihrer Kinder empfunden hatte. Der graue Schatten an der weißen Wand schien die Frau ans Bett zu fesseln. Er war genauso sehr Teil des Ganzen wie die Figuren selbst.
Lara betrachtete das Bild, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Fesseln« war das richtige Wort. Ihre Kinder hatten, ohne es zu wollen, ein Gefängnis aus Pflicht, Müdigkeit und Liebe um sie herum errichtet. Sie konnten nichts dafür, und doch hatten sie sie ausgesaugt und ängstlich gemacht.
Aber jetzt, endlich, hatte Stephen ihr ihren Mut zurückgegeben.
Die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete sich. Mit einem Blatt Papier in der Hand und einem Lächeln im Gesicht stand er da.
»Was ist?«, fragte Lara, klappte das Buch zu und legte es neben sich aufs Sofa.
»Etwas Unglaubliches ist passiert«, sagte Stephen. Er hielt ihr das Blatt Papier hin. »Das ist ein Laborbericht.« Er setzte sich zu ihr, legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Sieh mal!« Mit dem Finger fuhr er eine Liste von Zahlen entlang bis zu einem Textabsatz, der mit Ergebnis überschrieben war. »Lies das, Lara.«
»›Auf Grundlage der DNA -Analyse kann der mutmaßliche Vater, Sam Miller‹ …«
»Das bin ich«, warf Stephen ein.
»›… als leiblicher Vater des Kindes Oliver Wayland nicht ausgeschlossen werden …‹« Lara hielt inne und schlug sich eine Hand vor den Mund.
»Lies weiter«, bat Stephen, der sie nach wie vor im Arm hielt.
»›… da eine Übereinstimmung mehrerer genetischer Marker nachgewiesen werden konnte.‹ Stephen, ich kann nicht weiterlesen«, sagte sie.
Er nahm ihr das Blatt aus der Hand und las vor. »›Zur Wahrscheinlichkeit eines Verwandtschaftsverhältnisses, verglichen mit einer nicht getesteten, nicht verwandten Person derselben Ethnizität, siehe unten.‹ Und unten, Lara, steht das hier«, setzte Stephen hinzu, und sein Gesicht leuchtete vor Triumph. »›Prozentsatz der Wahrscheinlichkeit: neunundneunzig Komma neun neun vier zwei‹.«
»Aber wie hast du –?« In Laras Kopf herrschte heilloses Chaos.
»Ich hatte schon vorsorglich im Labor in der Stadt wegen eines Eilauftrags angefragt. Ich dachte, es würde schwierig werden, an Proben zu kommen, aber Ollys Haare in meinem Hut – an dem Abend im Zirkus – waren ein Geschenk des Himmels. Jede Menge Haarwurzeln.«
Lara machte sich von Stephen los. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Brustkorb nach innen gedrückt.
»All die Jahre hatte ich einen Verdacht … und genau das war er.« Er fasste sie bei den Schultern und drehte sie zu sich herum, so dass sie seinem siegestrunkenen Blick ausgesetzt war. »Ich hatte damals schon meine Zweifel, als du mir gesagt hast, dass du schwanger bist. Aber du warst dir in Bezug auf das Zeugungsdatum so sicher, dass ich nicht weiter darüber nachgedacht habe.«
»Nein.« Erneut entzog Lara sich ihm und schlug die Hände vor die Augen.
»Ich habe herausgefunden, dass es Zwillinge waren, weißt du? Kurz nach der Geburt.«
»Wenn du Zweifel hattest«, sagte Lara und drehte sich zu ihm um, »warum bist du dann nicht zurückgekommen und hast mit mir darüber gesprochen?«
»Weil mir die Möglichkeit gar nicht offenstand. Vergiss nicht, ich war völlig mittellos. Außerdem konnte man damals solche Tests noch gar nicht machen.« Er schwenkte den Laborbericht in der Luft. »Ich hatte keine Beweise. Und selbst wenn – was, wenn ich mich doch geirrt hätte? Ich habe getan, was richtig war, und mich zurückgezogen. Mein Verhalten war ein Musterbeispiel an Ehrenhaftigkeit. Das musst du respektieren, Lara. Aber ich habe trotzdem die ganze Zeit über daran denken müssen. Und ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Weißt du, wie schwierig es ist, eine Zwillingsschwangerschaft korrekt zu datieren?«
»Ja«, antwortete Lara mit leiser Stimme. Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Und wenn
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