Hautnah
Marcus, den Mund voller Pasta, da er während des Sirenengeheuls ungerührt weitergegessen hatte, »ist das ein Probealarm für die Feuerwehr. Den gibt es im Sommer jeden Tag um zwölf Uhr. James hat es mir erklärt, als die Sirene mal losging, während wir geskypt haben. Von daher«, schloss er und schob sich die letzte Gabel voll Nudeln in den Mund, »komm runter, Olly.«
»Also«, sagte Lara, als sie mit dem Essen fertig waren. »Ihr räumt ab, und ich brauche heute Nachmittag ein paar Stunden ohne Jack, damit ich das Haus auf Vordermann bringen kann.«
»Ich muss Text lernen«, erklärte Marcus schulterzuckend.
»Bella? Olly? Könnt ihr euch ein bisschen um euren Bruder kümmern?« Eigentlich hätte sie es gern gesehen, wenn Marcus zur Abwechslung einmal Verantwortungsbewusstsein gezeigt hätte. In zwei Tagen gingen die Proben los, dann wäre mit ihm überhaupt nicht mehr zu rechnen. Es passte ihr nicht, dass sie die Babysitter-Stunden, die die Zwillinge ihr versprochen hatten, schon so früh aufbrauchen musste.
Olly stöhnte.
»Na ja, vielleicht können wir mit ihm zum Spielplatz gehen«, murmelte Bella nach längerem Zögern.
»Es gibt hier einen Spielplatz? Das ist doch toll!«, sagte Lara zu Jack, der sofort die Ohren gespitzt hatte.
»So würde ich es nicht gerade nennen«, entgegnete Olly. »Schrott wäre die passendere Bezeichnung.«
»Wie auch immer, jedenfalls werdet ihr eurer Mutter unter die Arme greifen«, entschied Marcus und erhob sich. »Also. Abwasch. Ich spüle, ihr trocknet ab und räumt das Geschirr weg.«
»Und vergesst Jacks Sonnencreme nicht«, warf Lara ein. »Seine Haut ist anders als eure, ja?«
»Ich glaube, das wissen wir inzwischen, Übermutter«, antwortete Bella.
Lara warf ihrer Tochter einen Blick zu. Dann krampfte sich plötzlich ohne Vorwarnung ihr Unterleib zusammen. Sie schnappte nach Luft und suchte Halt an einer Stuhllehne.
»Alles in Ordnung?«, fragte Marcus.
»Ja.« Lara wollte nicht mit ihm darüber reden. Sie wollte nach vorne schauen, nicht zurück.
»Bist du sicher?«
»Es geht mir gut, wirklich.«
Während die anderen das Geschirr in die Küche trugen, ging Lara nach oben, um auszupacken. Vorher holte sie noch ihren Laptop, damit sie bei der Arbeit ein bisschen Musik hören konnte. Am unteren Treppenabsatz blieb sie stehen und fragte sich, woran es lag, dass sie, wann immer sie sich in diesem Teil des Hauses aufhielt, sofort die Flucht ergreifen wollte. Mitten auf dem hellbraunen Teppich im Flur prangte ein leuchtend purpurner Fleck. Gut möglich, dachte sie, dass der aus einem Agatha-Christie-Stück stammt. Sie ging auf die Knie und beschnüffelte ihn. Er roch leicht metallisch und ranzig, wie ein rostiger Topf mit altem Abwaschwasser, und fühlte sich rau an.
Aus der Hocke heraus ließ sie den Blick durch den Flur schweifen. Der Teppichboden reichte genau von einer Wand zur anderen, er konnte also nicht aus dem Theaterfundus stammen; wahrscheinlich lag er schon seit vielen, vielen Jahren hier. Sie würde James um die Erlaubnis bitten, ihn herauszureißen.
Oben im Schlafzimmer schaltete sie The Smiths’ The Queen is Dead auf iTunes ein und nutzte die Energie des Drumbreaks im ersten Song, um die Koffer aufs Bett zu wuchten.
Sie nahm Jacks Kleider aus dem Koffer, den sie mit ihm geteilt hatte, und legte sie in ordentlichen Stapeln auf die Holzregale der Kammer, die neben dem Schlafzimmer in den Dachvorsprung eingebaut war.
Sie liebte es auszupacken. Selbst wenn sie nur ein oder zwei Tage unterwegs waren, fand sie für alles einen Platz. Einem Außenstehenden mochte dies wie eine klassische Hausfraueneigenschaft erscheinen, aber das traf bei Lara nur zum Teil zu. Wenn alles sortiert und in Stapeln zurechtgelegt war, fühlte sie sich jeder Lage gewachsen. Diese Liebe zur Ordnung war es auch, die sie zu ihrem Beruf als Graphikdesignerin geführt hatte. Und sie war der Grund, weshalb sie Marcus und seine Schlampigkeit so schwer ertragen konnte. Wenn sie nicht wäre, hätten die Kinder niemals saubere Kleider, etwas zu essen im Bauch, Zahnarzttermine …
Sie unterbrach ihren Gedankengang und konzentrierte sich stattdessen darauf, die unterschiedlichen Tabletten und Salben aus dem Erste-Hilfe-Kasten zu nehmen und auf dem Regal aufzubauen.
Die äußeren Umstände hatten Lara schon in jungen Jahren zur Häuslichkeit gezwungen. Mit neunzehn war es ihr Traum gewesen, zur Schauspielschule zu gehen und Schauspielerin zu werden. Doch als sie während ihres
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