Hautnah
sich plötzlich am Rand eines schwindelerregenden Abgrunds und musste mit aller Macht gegen den Drang ankämpfen, in die Tiefe zu springen. Heute Abend nicht zu Stephen zu fahren wäre gleichbedeutend mit einem vorsichtigen Schritt rückwärts.
Die letzten vierundzwanzig Stunden waren, das erkannte sie nun, von einem Gefühl der Beklemmung und Unruhe geprägt gewesen, als hätte sich unter ihrem Solarplexus ein Tier eingenistet, das nun wie ein Fötus seine Glieder zu strecken versuchte.
Sie stieß sich auf der Schaukel kräftig mit den Füßen ab, um das Bild aus ihrem Kopf zu verscheuchen.
Wenn Marcus seinen Willen nicht bekommen hätte, wäre sie in der achtzehnten Woche gewesen. Zum ersten Mal empfand sie Erleichterung, dass es so gekommen war. Aber es war eine denkbar knappe Entscheidung gewesen. Am Tag des Eingriffs hatte sie in dem kleinen Park gegenüber der Klinik gesessen, einzeln die Blütenblätter von einer Rose abgezupft, die sie von ihrem stacheligen Stängel gezogen hatte, sie zwischen den Fingern zerrieben und den süßen Duft eingeatmet, der sie an das Parfüm erinnerte, das sie als Kind mit Wasser in einer blauen Plastikflasche angesetzt hatte.
»Ich glaube, noch ein Kind, das schaffe ich nicht«, hatte Marcus neben ihr gesagt.
Geschafft hatte er die anderen drei ja auch nicht. Sie hatten sein Leben nicht im Geringsten eingeschränkt. Trotzdem war er schon bei Jack mit genau demselben Argument gekommen. Für ihn war es praktisch, seinen mangelnden beruflichen Erfolg auf die Tatsache zu schieben, dass er so früh Kinder bekommen hatte. Dabei vergaß er gern, dass er bei der Geburt der Zwillinge bereits zweiunddreißig, also kaum ein Teenie-Vater, gewesen war.
Aber es war eine gute Ausrede.
»Du warst nach Jack gerade erst wieder richtig in Gang gekommen«, fuhr er fort und hielt ihre Hand fest, die dabei war, die Rosenblätter in winzige Stücke zu reißen. »Mit deiner Arbeit. Deinem Körper.«
»Aber ich hasse meine Arbeit«, sagte Lara.
»Das sagst du doch nur so.« Er tätschelte ihr das Knie, und sie hätte ihm am liebsten den Kopf abgeschlagen.
Was ihren Körper anging, hatte er nicht ganz unrecht. Nach den Zwillingen hatte sie ihre Figur, in die sie erst kurz zuvor hineingewachsen war, innerhalb kürzester Zeit zurückerlangt. Zum Glück, denn am Tag nach der Entbindung hatte Marcus für sechs Wochen nach Manchester gemusst, von wo er jeden Samstagabend müde, reizbar und mit einem Sack voller Schmutzwäsche nach Hause zurückgekehrt war, um am Montagmittag gleich wieder zu verschwinden.
Nach Jack war es ganz anders gewesen. Selbst mit ihren einunddreißig Jahren war sie eine der Jüngsten im Geburtsvorbereitungskurs in Brighton gewesen. Trotzdem hatte es harte Arbeit gekostet, ihre Bauchmuskeln wiederzuentdecken und die Fettschicht loszuwerden, die sie sich durch ihren Heißhunger auf Dosenpfirsiche in süßem Sirup mit Kondensmilch angefuttert hatte.
Damals hatte sie mit dem Joggen angefangen. Sie hatte sich ein Programm zur körperlichen Runderneuerung auferlegt, das in seiner absoluten Fixierung auf Körperfett versus Muskelmasse und Body-Mass-Index-Berechnungen für andere ungelöste Probleme in ihrem Leben keinen Platz mehr ließ.
Sie hatte eisern trainiert und ein halbes Jahr gebraucht, um wieder auf ihr Gewicht von vor der Geburt zu kommen. Die schlaffe Haut am Bauch und an den Brüsten allerdings war geblieben, durchzogen von einem Netz aus silbrigen Schwangerschaftsstreifen. In Kleidern sah sie ganz passabel aus, und Marcus schaute selten genauer hin, wenn sie sich vor dem Zubettgehen bis auf die Unterwäsche auszog, daher wusste er es nicht besser.
Aber als sie an jenem Tag im Park saß und den an ihren Fingern haftenden Rosenduft einatmete, machte Marcus’ Argument über den Zustand ihres Körpers nur wenig Eindruck auf sie. Die beginnende Schwangerschaft hatte ihren hart erkämpften Muskeltonus bereits weggeschmolzen. Von dem Moment an, als das unselige Spermium auf die glücklose Eizelle getroffen war, hatte sie gegessen, als wolle sie an einer Fernsehdokumentation über Menschen teilnehmen, die die Hilfe von Kränen benötigten, um aus dem Bett aufzustehen. Ganze Weißbrotlaibe und in Plastik eingeschweißte Kuchen, die für eine Familie gedacht waren, fanden den Weg in ihren Magen. Ihr enorm gesteigerter Appetit war es auch gewesen – eher als eine ausbleibende Periode in ihrem ohnehin unregelmäßigen Zyklus –, der sie dazu veranlasst hatte, in die
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