Hautnah
unbegreiflich, wie viel Unordnung ihre Familie innerhalb von zwei Tagen anrichten konnte. Da sie noch keinen offiziellen Platz für die Schmutzwäsche bestimmt hatte, waren Bella, Olly und Marcus dazu übergegangen, ihre dreckige Unterwäsche, stinkenden Socken und T-Shirts nach dem Ausziehen einfach auf dem Fußboden liegen zu lassen. Lara fand, dass sich genügend Wäsche angesammelt hatte, um eine Fahrt zum Waschsalon zu rechtfertigen, der, wie James ihr mitgeteilt hatte, an der Main Street hinter der Abzweigung zum Theater lag.
Sie ging von Zimmer zu Zimmer, sammelte Kleider auf, stopfte sie in eine Tüte und versuchte, dabei nicht an Stephen zu denken oder daran, was als Nächstes passieren würde. Wenn sie das Problem in ihrem Kopf ganz weit nach hinten in eine Ecke schob, würde es sich vielleicht von selbst lösen, ohne dass sie etwas dafür tun musste. Doch die Spuren, die er auf ihrem Körper hinterlassen hatte, waren schwer zu ignorieren. Alles, was sie tat, schien von einer ganz neuen Bedeutsamkeit erfüllt. Sie spürte seine Anwesenheit in den Wänden, als verfolge er jede ihrer Bewegungen und wäge sie mit seinen Blicken ab.
Genau das Gefühl hatte sie auch, als sie sich in Bellas Zimmer auf den Bauch legte und den Arm unter das Bett streckte, um nach einem Slip zu greifen. Unter Stephens imaginärem Blick war es eher eine Tanzbewegung als ein häuslicher Handgriff. Als sie den Slip ihrer Tochter unter dem Bett hervorzog, blieb ein Stück Papier daran hängen. Den Fund in der Hand, kam Lara auf die Knie und stellte fest, dass es sich um die alte Fotografie eines Mädchens handelte. Es war vielleicht zwölf Jahre alt und blickte, ohne zu lächeln, starr in die Kamera. Es trug Kleider, die Laras Vermutung nach aus den vierziger Jahren stammen mussten. Als sie das Foto umdrehte, sah sie, dass jemand auf die Rückseite den Namen »Jane« geschrieben hatte.
Lara wischte den Staub vom Foto und lehnte es gegen Bellas Fensterrahmen.
»Mummy!«, rief Jack laut aus seinem Zimmer. Laras freie Zeit war um. Jetzt stand ihr ein langer, heißer Nachmittag bevor, und sie hatte niemanden außer Jack zur Gesellschaft.
»Wie wäre es mit einer Fahrt in den Waschsalon, Jacky?«, schlug sie vor. »Ich ziehe mich nur schnell um.« Sie wollte Stephens Hemd mit in die Wäsche geben, auch wenn sie sich ihres Beweggrundes – wenn es sauber war, würde sie zu ihm fahren und es ihm zurückgeben müssen – ein wenig schämte.
Sie gab Jack ein Buch, das er anschauen konnte, während sie in der kleinen Wanne mit dem gebogenen Rand duschte. Während das eisige Wasser ihr die Hitze aus dem Körper saugte, überkam sie eine ungekannte geistige Klarheit. Sie musste Stephen sagen, dass er sie vergessen und in Frieden lassen solle. Ihre Familie war wichtiger als alles andere auf der Welt. Sie kam an erster Stelle, vor ihren eigenen selbstsüchtigen Wünschen.
Alle Beteiligten – oder zumindest die meisten – wären glücklicher, wenn die Dinge so blieben, wie sie waren.
Sie stieg aus der Wanne und trocknete sich ab, wobei sie es vermied, sich selbst im beschlagenen alten Spiegel an der blechverkleideten Wand gegenüber der Wanne zu betrachten. Das Letzte, was sie jetzt sehen wollte, war ihr schlaffer Körper mit seinen allzu deutlich sichtbaren Spuren kürzlicher und länger zurückliegender Schwangerschaften.
Die Zwillinge. Was wäre wenn …
Sie schüttelte den Kopf. Wie schrecklich doch ein nagender Zweifel war, wie ein Samen, der tief in einem vergraben lag, aber jederzeit austreiben und seinen Kopf aus der Erde recken konnte.
Sie entfernte die letzten Reste von Mascara, die um ihre Augen herum zu Flecken verlaufen waren, so dass sie aussah wie ein Pandabär. Dann trug sie Feuchtigkeitscreme auf und tuschte sich die Wimpern neu. Sie schlüpfte in frische Unterwäsche, zog ihr tintenblaues Leinenkleid an, das immer besser aussah, wenn es zerknittert aus dem Koffer kam, und knüllte Stephens Hemd zusammen, um es zur Schmutzwäsche zu stecken. Dann machte sie sich mit Jack im Buggy auf die Suche nach dem Waschsalon.
Die trübe Hitze hatte sich in einen gelben Dunst verwandelt, der so dicht war, dass Lara das Gefühl hatte, als müsse sie sich durch ihn hindurchkämpfen, um auf der Main Street vorwärtszukommen. Die Straße führte an einem unbesetzten Verkaufsstand mit Blumen und Mais vorbei, dann folgten mehrere Häuser in zunehmenden Stadien des Verfalls. Schließlich gelangte sie zu dem Schild, das James ihr
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