Havanna für zwei
Augen. »Komm schon, gehen wir spazieren!«
Sie traten hinaus auf die Straße. Sophie studierte ihren Stadtplan, während Emma danebenstand. »Wenn wir den Paseo del Prado weiter hochgehen, kommen wir direkt zum Malecón. Die Sonne geht bald unter, und dann flanieren alle Einheimischen dort entlang.«
Emma sah auf die Uhr. Bis zu ihrem Treffen mit Greg hatten sie noch anderthalb Stunden.
Sie überquerten die Straße zu der Promenade, die auf beiden Seiten von hohen Bäumen vor der Sonne geschützt war. In der Mitte der Durchgangsstraße standen zwei majestätische Löwenskulpturen aus Bronze, auf denen lachend ein paar Jungs herumkletterten. Sie waren groß und schlaksig und trugen Hosen, die ein ganzes Stück zu kurz waren. Ihre Schuhe waren vorne aufgeschnitten, um ihren wachsenden Füßen Platz zu verschaffen. Andere Halbwüchsige amüsierten sich auf ihre Art, indem sie zu der Musik tanzten, die einer von ihnen mit einer Dose und einem Löffel machte.
Es war nicht windig, als sie die Strandpromenade erreichten, doch die wogende Flut brachte heftige Wellen mit sich, die gegen die Mauer krachten, auf der junge Männer mit nackten Oberkörpern und zerfransten Longshorts saßen. Einige von ihnen tranken Rum, andere tanzten zu einem imaginären Rhythmus, und wieder andere standen an der Mauer und diskutierten, ob sie ins Wasser springen und schwimmen sollten.
Eine stattliche Reihe reizvoller Gebäude säumte die andere Straßenseite. Jedes davon war in einer anderen Pastellfarbe gestrichen, die allesamt durch die Sonne verblasst waren, die direkt auf die Fassaden knallte. In der Ferne, über den Hochhäusern im Stadtviertel Vedado, sank die Sonne tiefer.
»Es ist genauso, wie ich es mir vorgestellt habe.«
»Ich mir auch!«, seufzte Sophie.
Emma drehte sich abrupt zu ihr um. »Ich wusste nicht, dass du unbedingt mal nach Havanna wolltest.«
»Ich wollte schon immer gern herkommen. Paul wusste das!«
Emma schüttelte verwundert den Kopf. »Was hat Paul damit zu tun?«
Sophie starrte ihre Schwester feindselig an. Sie hatte große Lust, es ihr zu sagen. Aber das würde sie nicht tun. Stattdessen würde sie lügen.
»Paul und ich haben darüber gesprochen, als er die Reise geplant hat. Er wollte sichergehen, dass es das ist, was du wolltest.« Die Worte blieben ihr fast im Halse stecken.
»Oh!« Emma drehte sich wieder zur Sonne und beobachtete, wie sie dunkler wurde, während der Himmel sich zu Orange- und Gelbtönen verfärbte, doch in Gedanken war sie ganz woanders.
Warum hatte Paul das getan? Wieso hatte er seine Urlaubspläne mit ihrer jüngsten Schwester besprochen? Das ergab keinen Sinn. Andererseits war in den letzten Wochen von Pauls Leben vieles passiert, was keinen Sinn ergab. Zum Beispiel der Besuch beim Arzt, wo er über Depressionen geklagt hatte, und das Rezept für besonders starke Schlaftabletten und Antidepressiva, das sie in seiner Jackentasche gefunden hatte.
»Komm! Wir wollen doch den attraktiven Kanadier nicht entwischen lassen«, meinte Sophie und stupste ihre Schwester am Arm. »Wenn du nicht zu Fuß zurückgehen willst, könnten wir eins von diesen lustigen kleinen gelben Taxis ausprobieren.« Sie meinte die Coco-Taxis, die am Malecón hin und her zischten.
»Die sehen echt witzig aus!«, stimmte Emma ihr zu. Sie musste aufhören, sich selbst zu quälen. Wahrscheinlich würde sie die wahre Ursache für Pauls Tod nie erfahren.
Sophie hielt einen der kleinen eierförmigen Motorroller an, die gerade groß genug waren, um den Fahrer und zwei Passagiere zu transportieren. Die Frauen saßen unsicher auf den roten Plastiksitzen und ließen sich auf dem Rückweg zum Hotel den Wind um die Nase wehen. Sie spürten jede Unebenheit auf der Strecke.
Mit Anbruch der Dunkelheit erwachte Parque Central zum Leben. Einige der vielen jungen Leute musizierten mit improvisierten Instrumenten, sodass der ganze Platz von Lebendigkeit und Dynamik widerhallte. Den Takt dazu gaben die Motoren und das Hupen der Autos vor.
Sie stiegen aus dem Coco-Taxi und liefen langsam die Stufen zum Hotel hinauf. Im Foyer mit dem Marmorfußboden saß Greg schon mit einer Zeitung in der Hand. Er trug ein graues Hemd und eine cremefarbene Hose und hätte sich gut in einem Modemagazin gemacht. Als die Frauen näher kamen, sprang er auf.
»Hallo, Greg! Sie sind zu früh. Wir müssen uns noch fürs Abendessen umziehen«, begrüßte ihn Emma.
»Keine Sorge. Ich informiere mich nur, was in letzter Zeit so auf der Welt
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