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Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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fand. Er legte ihn auf den Tisch.
    »Okay«, sagte der junge Mann und drückte Wegmann den Brief in die Hand. Dann drehte er sich um und war schon fast wieder verschwunden.
    »Brauchen Sie gar keine Unterschrift?«
    Der Kurier lächelte und rieb den Daumen gegen den Zeigefinger. »Extrakohle. Den Brief hat mir ein Mann direkt am Eingang der Redaktion in die Hand gedrückt. Ohne schriftlichen Auftrag und für die paar Meter richtig gut bezahlt. Er wollte nur, dass ich den Brief persönlich an Sie übergebe.« Noch bevor Wegmann nach der Beschreibung des Mannes fragen konnte, war der Kurier auf den Flur verschwunden.
    Er legte den Umschlag vor sich auf den Schreibtisch. Henry Wegmann stand dort in großen Lettern und persönlich . Kein Absender, kein Hinweis auf die Herkunft des hellbraunen Umschlages.
    Wegmann nahm den Brieföffner aus der Schale und setzte ihn an die obere rechte Ecke des Briefes. Dann verharrte er in der Bewegung. Was, wenn ihm jemand eine Briefbombe geschickt hätte? Ihm fielen sofort die Bilder des Wiener Bürgermeisters Helmut Zilk ein, der seine linke Hand durch eine solche Bombe eingebüßt hatte.
    Er legte den Umschlag wieder auf den Schreibtisch und strich mit der Hand darüber. Nichts. Keine Wölbung, alles glatt, und der Brief war auch nicht übermäßig dick. Er ließ ihn dort liegen, nahm sich wieder den Brieföffner und versuchte, das Papier nur mit den Fingerspitzen zu berühren. Vorsichtshalber schloss er sogar die Augen.
    Nach dem sauberen Schnitt durchs Papier blieb sein Büro unversehrt, keine rußgeschwärzten Wände, keine geborstenen Fensterscheiben, und auch alle seine Finger waren noch dran.
    Er glitt mit der Hand in den Umschlag und legte den Inhalt oben auf. Schon die Überschrift hatte es in sich, und Wegmann musste ein wenig über seine Gedanken an eine Bombe lächeln. So weit war er mit seiner Assoziation gar nicht von der Wahrheit entfernt gewesen.
    Der richtige Obduktionsbericht zu Nepomuk Böttger. »Der richtige« war per Hand hinzugeschrieben worden.
    Wegmann las nur den ersten Satz, da lief es ihm schon eiskalt den Rücken herunter: Der Leichnam wurde in einem Zustand aufgefunden, der dem Ausweiden von Wild gleichzusetzen wäre.
    Schnell stopfte er den Bericht wieder in den Umschlag und verließ mit seiner brisanten Information die Redaktion.

30
    Manzetti hatte noch zehn Minuten bis zu seinem Termin mit den Leuten vom LKA. Die wollte er sinnvoll verbringen, zudem er nicht gewillt war, wirklich pünktlich bei seiner eigenen Vernehmung zu erscheinen. Herr im Hause war noch immer er, auch wenn man ihm den Fall weggenommen hatte.
    Er wählte erneut eine Nummer aus dem Speicher und drückte die grüne Taste. Es klingelte drei Mal, dann meldete sich die Haushälterin seiner Mutter.
    »Renata, scusi, dove si trova Signora Manzetti?«
    Renata, die ursprünglich aus Kalabrien stammte und sich auch nach zehn Jahren in den Diensten der Familie Manzetti nicht an den toskanischen Akzent gewöhnen wollte, legte mit einem lauten Knacken den Hörer hin und ging die Hausherrin holen.
    Nur zwei Minuten später vernahm Manzetti die Stimme seiner Mutter. »Andrea, mein Liebling. Was hast du? Ist etwas mit den Mädchen?«
    Manzetti streckte den freien Arm aus und betrachtete seine Fingernägel. Er musste es ihr erzählen, auch wenn er damit provozierte, dass sie sich in den nächsten zu erreichenden Flieger setzte. Die Beteuerungen, es würde auch ohne ihren direkten Beistand gehen, prallten gewöhnlich an seiner Mutter ab wie ein Gummiball von einer Hauswand.
    »Mama«, sagte er und überlegte immer noch krampfhaft, wie er verhindern konnte, dass sie seine Worte im Nu auf des Dramas Spitze treiben würde. »Lara wurde … sie ist … ich meine, es geht ihr gut, und die Ärzte sagen, dass sie bald wieder in Ordnung ist. Es wird nichts weiter übrig bleiben, als eine winzig kleine Narbe, noch dazu an einer Stelle, die niemand zu sehen bekommt.«
    »Wer sagt das, mein Junge?«
    »Was?«
    »Dass die Stelle niemand zu sehen bekommen wird?«
    Manzetti ging in Hab-Acht-Stellung. Was war mit ihr? Kein besorgtes Stöhnen, keine bohrenden Nachfragen. Aus seinen Worten konnte sie doch unschwer schlussfolgern, was mit ihrer Enkelin passiert war.
    »Mutter, du fragst mich gar nicht, was Lara zugestoßen ist? Wie kommt das?«
    »Und du erzählst mir gar nicht, was mit meiner Enkelin geschehen ist? Wie kommt das? Aber zum Glück habe ich ja zwei Enkeltöchter und auf die ist noch immer mehr Verlass,

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