Havelgeister (German Edition)
als auf deren Eltern. Eine Schande ist das.«
Als es am anderen Ende verdächtig still blieb, hakte Manzetti nach: »Mama? Bist du noch dran?«
Sie war noch dran und das in gewohnter Art und Weise.
»Andrea«, sprach sie in dem für Signora Manzetti so typischen und scharfen Tonfall. »Hör endlich auf, dich wie ein Deutscher zu verhalten, der alles allein regeln will. Wohin das führt, haben wir ja wohl bei deinem Vater gesehen. Benimm dich also so, wie es dir dein Großvater beigebracht hat. Ein Manzetti trägt den Kopf oben und hat eine starke Familie im Rücken.«
Manzetti räusperte sich und setzte sich auf seinem Bürosessel gerade hin. »Es gibt aber noch etwas anderes, was ich dich fragen wollte. Lara ist möglicherweise in einen ziemlich komplizierten Mordfall verwickelt, und ich brauche deinen Rat.«
»Dann bitte. Was möchtest du wissen?«
Er überlegte kurz. »Quitten. Es tauchen rund um das Opfer Quittensamen auf. In den Hosentaschen und lose in der Mundhöhle. Mein Nachbar hat mir eine alte Seemannsgeschichte über Quitten erzählt, die ich für reichliches Gewäsch hielt. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr kommt mir Großmutter Simona in den Sinn. Die hat mir früher auch etwas von Quittensamen erzählt. Nur weiß ich nicht mehr in welchem Zusammenhang. Kannst du dich vielleicht daran erinnern?«
Der nächste Satz seiner Mutter kam wie aus der Pistole geschossen. »Hat man dem Opfer das Herz herausgerissen?«
Manzetti glaubte nicht richtig zu hören. Damit hatte er nun überhaupt nicht gerechnet, weshalb es ihm für einen kurzen Moment die Sprache verschlug.
»Andrea, hat man ihm das Herz herausgerissen?«, stocherte Signora Manzetti energisch nach.
»Ja, und man hat das Herz durch einen Stein ersetzt.«
»Stand da etwas drauf.«
»Wo?«
»Auf dem Stein. Stand etwas auf dem Stein?«
»Ja«, sagte Manzetti.
Nach dieser Antwort verstummte seine Mutter. Sie schien den Hörer vom Ohr genommen zu haben, und er hörte nur noch gedämpft, wie sie nach Renata rief und der Haushälterin schnelle und eindeutige Anweisungen erteilte. Dann kam sie wieder an den Apparat.
»Ich nehme die Abendmaschine ab Pisa. Es wäre schön, wenn Kerstin mich vom Flughafen abholt. Ich melde mich kurz vor dem Start noch einmal.«
Mehr sagte sie nicht und mehr wollte sie wohl auch nicht hören, denn noch bevor Manzetti den Mund öffnen konnte, hatte seine Mutter aufgelegt.
31
Kevin wurde durch ohrenbetäubende Musik geweckt. Als stünden die Kastelruther Spatzen direkt neben ihm, drang krachende Volksmusik in seine Ohren. Mit aller Kraft zog er die bleischweren Lider hoch und stellte fest, dass er noch immer ganz allein in diesem Keller saß. Angebunden an dieses Ding.
Nach nur wenigen Sekunden fehlte ihm allerdings schon wieder die Kraft, die Augen offen zu lassen. Er gab der Ermattung nach und schloss sie. Was sollte er auch sehen können? Nichts außer Finsternis und selbst in einen Spiegel hätte er nicht schauen wollen, denn da würde ihm sicher nicht der ehemals strahlende Kevin Schuster begegnen, den seine Freundin mit einem bewundernden Blick bedachte.
Nach gefühlten dreißig Sekunden ebbte die Musik ab. Wie in den vergangenen drei oder vier Stunden, in denen alle fünfzehn Minuten dieser Krach losbrach. Ihm war klar, dass der permanente Schlafentzug eine weitere Foltermethode darstellte. Sie weckten ihn alle fünfzehn Minuten, vier Mal in der Stunde.
Es war der blanke Horror, und so war in Kevin die Hoffnung gekeimt, irgendwann in das unausweichliche Koma zu fallen, aus dem ihn nicht mal eine auf sein Ohr gesetzte Trompete aufwecken würde. Mitten in diese Überlegung hinein ging plötzlich ein starker Scheinwerfer an, und Kevin spitzte die Ohren. Würde sich sein Peiniger jetzt endlich zeigen?
Er glaubte tatsächlich etwas zu hören. War da wirklich was oder erschien ihm das Geräusch lediglich als Produkt seiner beginnenden Verwirrtheit? Kevin befürchtete, dass ihm mit den wachsenden Schmerzen und dem allmächtigen Durst allmählich die Fähigkeit verloren ging, klar zu denken. Dann aber vernahm er ein erneutes Scharren, und plötzlich schob sich hinter ihm ein Riegel zurück. Wenig später schwang quietschend die Tür auf.
»Kevin, gute Junge«, hörte er eine Männerstimme in einem komischen Dialekt. Der Mann sprach wie einer der Russen, die in der Pariser Straße wohnten. »Du Durst haben? Hier, ich mitgebracht Wasser. Du magst Wasser?«
Kevin spürte, wie sich das perlende
Weitere Kostenlose Bücher