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Havelgeister (German Edition)

Havelgeister (German Edition)

Titel: Havelgeister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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mitgewirkt hatte. Dort ist sie auch geblieben, als Jugoslawien aufhörte zu existieren, und hat Kevin dorthin geholt. Ich glaube, er ist in Priština operiert worden. Aber fragen Sie doch einfach meine Mutter.«
    Das hatte Manzetti auch als Nächstes vor. Eine Frage gab es aber dann doch noch. »Frau Schuster. Woher haben Sie plötzlich das Geld für einen Frisör.«
    Wie schon vor zwei Tagen in ihrer winzigen Küche, ließ sie auch jetzt den Blick aus dem Fenster gleiten. »Hier ist ein normaler Haarschnitt noch zu bezahlen. Auch von Hartz-IV.«
    »Schon«, setzte Manzetti nach. »Und was machen Sie mit dem restlichen Geld?«
    Sie fuhr plötzlich herum. Sofort machte sich eine der Haarklemmen selbständig. »Was für Geld?«
    »Das Sie von Frau Böttger bekommen haben. Wofür gab es das. Sollen Sie schweigen, was die Herztransplantationen im Kosovo betrifft? Ist es so etwas wie Blutgeld? Auch Nepomuk hatte ein Spenderherz. Ist ihm das etwa auch im Kosovo transplantiert worden?«
    Rosi Schuster hob die Haarklemme auf und steckte sie wie einen Pulsmesser über den Daumen. Dann traten Tränen in ihre Augen. »Nehmen Sie es mir nicht weg, bitte. Ich muss mir noch ein Kleid und neue Schuhe kaufen, und ich brauche auch Blumen.«
    »Und wofür, Frau Schuster?«
    Sie zeigte an sich hinunter. »Weil ich nicht so an das Grab meines Sohnes treten will. Ich bin doch seine Mutter.« Dann brachen bei ihr alle Dämme. Als sie sich wieder aufrichtete, waren ihre Augen aufgequollen. »Morgen wird mein Sohn beerdigt, und ich will ihn nicht blamieren.«
    »Aber Kevin lebt vielleicht noch. Morgen ist die Beerdigung von Nepomuk Böttger.«
    »Ja«, sagte sie und schnäuzte in das Taschentuch, das Manzetti ihr gereicht hatte. »Kevin und Nepomuk sind Zwillinge.«

43
    Anstrengende Nächte versäumen nur selten, sich bei ihren Komparsen für deren Hingabe erkenntlich zu zeigen, was jedoch durchaus nicht zu deren Wohl sein muss. Denn meistens treten sie mit kleinen oder auch größeren Katastrophen nach. Sie schieben sich über die Menschen, wie die Schatten hoher Berge, die am frühen Morgen über den Tälern liegen.
    Bremer war zu dem Zeitpunkt, da er sich für ein oder zwei Stunden von Sebastian verabschiedet hatte und bereits durch den Nicolaipark spazierte, nicht frei von ähnlichen Empfindungen. Er fühlte sich, als säße er von grenzenlosem Verrat umgeben in einem tiefen Loch, das ausschließlich glatte und rutschige Wände hatte.

    Während des Gehens führte er die linke Hand in den Nacken, wo sie verzweifelt versuchte, den stechenden Schmerz aus den Muskeln zu massieren. Zudem brannten ihm die Augen, als hätten sie die halbe Nacht ins Höllenfeuer geguckt. Er musste dringend nach Hause, unter die Dusche, vielleicht einen kleinen Rotwein und dann wollte er seine alte Nachbarin aufsuchen, die Emmi, die er mit der Geschichte von Manzettis Nachbarn Paul konfrontieren wollte.
    Als Bremer vom Nicolaiplatz aus bereits die Robert-Koch-Straße einsehen konnte, sah er mehrere Streifenwagen der Polizei und den Leiterwagen der Feuerwehr vor dem Haus stehen, in dem seine Wohnung lag. Dutzende Menschen drängten sich dicht aneinander und belagerten jeden Zentimeter des Bürgersteigs. Um diese Menge herum waren Feuerwehrleute und Polizisten damit beschäftigt, den Kokon aus Leibern mit einem rot-weißen Flatterband einzufangen und damit von den eigentlichen Einsatzkräften fernzuhalten. Bremer rannte die letzten Meter und sah dann wie alle anderen an der Fassade hoch, bis sein Blick den Dachfirst erreichte.
    Das konnte doch nicht wahr sein. Etwa zwanzig Meter über ihm stand eine weiße Gestalt mit weit ausgebreiteten Armen. Aus der Entfernung betrachtet, ähnelte die Gestalt Kate Winslet am Bug der untergehenden Titanic und Bremer war sich ziemlich sicher, dass sie sogar Céline Dions Ballade »My Heart will go on« sang.
    Als er sich durch die Menge nach vorn gedrängt hatte, kam auch schon ein Polizeibeamter auf ihn zu. Er war groß und kräftig, etwa vierzig Jahre alt und trug eine reflektierende Weste, die ihn als Polizeiführer auswies.
    »Dr. Bremer, schön dass Sie doch noch kommen. Wir versuchen schon seit einer halben Stunde, Sie auf Ihrem Handy zu erreichen. Aber das ist wohl abgeschaltet.«
    Bremer kannte den Polizisten gut. Er hatte während einiger Obduktionen mit ihm zu tun gehabt. »Was ist denn passiert?«, fragte er ihn.
    »Was hier los ist, sehen Sie ja«, sagte der Einsatzleiter, drehte sich um und schaute gemeinsam mit

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