Haveljagd (German Edition)
aus.«
Stress? Wenn er nur Stress haben dürfte. So wie vor ein paar Wochen, als eine halbe Stunde vor Redaktionsschluss der Leitartikel noch immer nicht stand. Das war Stress. Aber das hier? Das war eher die Vorstufe zum Herzinfarkt.
»Lass es doch langsam angehen, Werner. Jetzt, wo du Pensionär bist.«
Er legte ihr seinen rechten Arm um die Schulter. »Ach, Karin. Fang du nicht auch noch damit an. Ich kann’s bald nicht mehr hören.«
»Was denn?«
»Dass ich Pensionär bin. Warum glaubt alle Welt mich ständig daran erinnern zu müssen? Selbst Lotte tut es ohne Unterlass.«
Karin strich ihm über die Brust und schwang dann ihren Arm um seine Hüfte.
»Komm, lass uns was trinken gehen, und dann redest du dir mal wieder richtig die Seele vom Leib. Du siehst nämlich aus, als würdest du zu viel negative Energie in dir aufstauen.«
Nach nur wenigen Schritten blieb er stehen, seine Schuhsohlen schienen sich zwischen den Pflastersteinen festzukrallen. »Ich habe aber überhaupt keine Zeit.«
Sie brach seine Gegenwehr, indem sie ihn einfach weiterschob. »Du musst nicht mehr zu denen gehören, die einen vollen Terminkalender für ein erfülltes Leben halten, mein Lieber.« Dann sah sie schnell nach links und rechts und zog ihn hinter einer Tram über die Straße, hin zu einem Café, in dem man jetzt im Sommer auch draußen bediente.
»Guck, hier setzen wir uns jetzt in die bequemen Sessel und trinken einen Chai, wenn sie welchen haben. Und dann lassen wir unsere Seelen miteinander baumeln.«
Natürlich werden die Chai haben, sagte er sich. Den hatte man mittlerweile selbst in Brandenburg, aber ihre Seelen gemeinsam baumeln lassen? Manchmal war Karin nicht von dieser Welt. In Zuckertütenwurfweite drängelte sich eine nie abreißende Autokarawane vorbei, gelegentlich nur unterbrochen von den Straßenbahnen. Da sollte man die Seele lieber nicht baumeln lassen, sie könnte nämlich unter die Räder kommen. Trotzdem, er hatte plötzlich Lust, mit ihr zu reden.
»Wollen wir nicht lieber ins St.-Annen-Center gehen. Da erwischt uns die Sonne nicht so und klimatisiert ist das Center auch.«
Karin setzte sich, als hätte sie seine Bitte überhaupt nicht gehört, in einen der Rattansessel und schlug ein Bein über das andere.
»Lass uns hier bleiben«, sagte sie, und es klang wie ein Befehl.
Was sollte er machen? Er nickte, denn Karin, das wusste er aus den vorangegangenen Beziehungen mit ihr, war nicht nur willensstark, sie war ein Bollwerk, wenn es darum ging, das abzuwehren, was ihrer Intention im Weg stand. Also zog er einen Sessel unter den Sonnenschirm und setzte sich.
Mit Karin zu reden war nicht immer einfach. Sie konnte nur selten aus ihrer Haut. Sie arbeitete seit einigen Jahren als Psychotherapeutin in ihrer eigenen Praxis, und unterlag immer häufiger der Versuchung, jeden ihrer Gesprächspartner aus den verschiedensten Blickwinkeln moderner oder auch althergebrachter Theorien zu analysieren. Aber reden wollte er trotzdem. Über Verantwortung zum Beispiel, Verantwortung für einen alten, nun toten Freund, darüber, wo diese Verantwortung ihren Anfang nahm, aber auch darüber, wo sie enden sollte.
»Karin, ich glaube, dass ich mich in etwas reinlanciert habe, was ich nicht mehr überblicke.«
Sie nahm ihre Armbanduhr ab und steckte die in die Umhängetasche. Eine Geste, die klar machte, dass nun unendlich viel Zeit da war. Sie hatte es früher immer ihr afrikanisches Motto genannt. Du hast die Uhr, ich habe die Zeit.
»Dann erzähl!« Sie lehnte sich in dem Rattansessel zurück.
»Und deine Patienten? Warten die nicht auf dich?«
»Kunden, Werner. Es sind Kunden und keine Patienten. Sie sind nämlich nicht krank, falls du das vergessen haben solltest.«
Das sah er allerdings etwas anders. Während ihrer immer wieder stattfindenden Beziehungen hatte er genügend Kontakt mit diesen Kunden gehabt. Und daher wusste er, dass die eine oder andere Dame, zumeist waren es nämlich Frauen, dass also die eine oder andere »Kundin« vollkommen gesund zu Karin in die Praxis gekommen war, um nach spätestens fünf Sitzungen zu wissen, wie verkramt ihre Psyche doch war.
»Ich kenne deine Kundschaft. Die sind schon was fürs Kuriositätenkabinett.«
»Meinst du?«, fragte sie und bestellte zwei Chai bei der Kellnerin, einem jungen Ding mit schätzungsweise einem guten Dutzend Piercings allein im sichtbaren Bereich. Sie legte dem Mädchen eine Hand an die Hüfte. »Natalie, du siehst nicht gut aus. Ist alles
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