Haveljagd (German Edition)
Schuldgefühle. Er empfand sein Dasein als Last, als eine riesige Bürde, die er nicht mehr tragen zu können glaubte. Zwei Menschen hatten versucht mit ihm zu reden. Zwei Menschen, denen er näher stand als Fremden, die aber trotzdem nicht zu seinem inneren Kreis gezählt hatten, und beide Menschen waren auf höchst seltsame Art und Weise ums Leben gekommen, noch bevor er ihrem Wunsch entsprechen konnte.
Was hatten sie von ihm gewollt? Worüber hatten sie mit ihm reden wollen?
In Gedanken versunken lenkte Michaelis das Auto über den glatten Asphalt. Links und rechts breitete sich dunkel der Wald aus, und die Scheinwerfer hatten einige Mühe, genügend von der Straße sichtbar zu machen. Der fast schwarze Belag schien um jeden Meter feilschen zu wollen, den ihm die Lichtkegel abzuringen versuchten.
In Pritzerbe bog er von der B 102 ab und lenkte das Gefährt in Richtung Marzahne, dahin, wo er einst mit Karin hingefahren war, als sie während ihrer letzten Beziehung auf die glorreiche Idee gekommen war, sich bei einem Bauern ein Kätzchen zu besorgen.
Katzen als Kindersatz. Karin hatte gehofft, dass er zu dem Tier eine Verbindung aufbauen würde, es ihm dadurch schwerer fallen würde, sich immer wieder von ihr zu trennen. Aber die Mieze hatte die Anforderungen nicht erfüllt. Die letzte Trennung war ihm um keinen Deut schwerer gefallen als die vorherigen. Nun musste die Katze mit Karin in deren Wohnung leben, wo sie sogar zum eigenen Lebensunterhalt beizutragen hatte. Sie diente als schnurrendes Beiwerk für die eine oder andere Therapiesitzung.
Michaelis parkte am Straßenrand und stieg aus. Der grüne Maschendrahtzaun schien neu zu sein, aber ansonsten wirkte das Gehöft wie eh und je.
Er klingelte.
»Ja?«, fragte der übergewichtige, ältere Bauer, und strich seine Hosenträger über die nackten Schultern.
»Guten Abend … Bitte entschuldigen Sie … ich möchte … ich bin in einer ziemlich verzwickten Notlage … wissen Sie … ich.« Für einen zusammenhängenden Satz fehlten ihm irgendwie die Worte.
»Herbert, wer ist denn da?« Hinter dem Mann tauchte eine etwa gleichaltrige Frau auf, in Gummistiefeln, aber mit sanften Augen, aus denen der langjährige Erfahrungsschatz einer Großmutter strömte.
»Guten Abend«, wiederholte Michaelis. Das war das Einzige, was er auf Anhieb verständlich herausbringen konnte.
»Er ist in einer Notlage«, erklärte der Bauer seiner Frau und wandte sich dann wieder an den späten Gast. »Ist was mit Ihrem Auto?«
»Nein«, sagte Michaelis und ließ den VW-Schlüssel in die Hosentasche gleiten. »Es ist etwas mit einem kleinen Jungen ... Wissen Sie, der Junge … er hat heute erfahren, dass … dass seine Großeltern ums Leben gekommen sind … und da habe ich mir gedacht«, stotterte er, obwohl das gar nicht mehr notwendig war. Die Frau hatte längst begriffen. Sie angelte nach seinem Hemdsärmel und zog ihn durch den Flur, hinaus auf den Hof und von dort in die Scheune.
Sofort stieg Michaelis der warme Duft nach frischem Heu und den verschiedensten Futtermischungen in die Nase und zwang ihn zum Niesen.
»Gesundheit«, wünschte die Bäuerin ihm.
»Danke.«
Dann zog sie ihn vor eine Holzkiste und hob eine weiße Decke hoch. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, sah sie ihn mit leuchtenden Augen an.
»Das wirkt Wunder«, sagte sie und hielt zwischen ihren breiten Fingern ein Knäuel aus Fell, Ohren und unendlich großen Augen.
Das war es. Genau deshalb hatte er hier angehalten.
»Wenn sich herausstellt, dass Ihr Junge das Kätzchen nicht will, dann bringen Sie es wieder her. Ansonsten bekomme ich 20 Euro. Es ist sogar schon entwurmt.« Sie drückte das schwarze Knäuel an die Wange.
Michaelis griff in seine Hosentasche und kramte zwei Zehnerscheine heraus, die er ihr in die freie Hand legte. Dann landete das schwarze Wollknäuel auf seiner Brust, wo es zur Begrüßung gleich die Krallen durch das Hemd schlug.
»Nicht wegziehen«, warnte die Bäuerin. »Dann gibt es lange Schrammen. Warten Sie, bis es die Krallen wieder einzieht.«
Wie bei Frauen, dachte Michaelis, und als sich bei dem Kätzchen die Aufregung wieder legte, zog es tatsächlich die Krallen ein und schloss die müden Augen. Vorsichtig legte Michaelis es auf den Beifahrersitz und deckte es zu, als sei es ein kleines Baby.
Von Marzahne fuhr er ohne weitere Umwege zum Bohnenländer See und stellte das Auto in unmittelbarer Nähe zu den wenigen richtigen Wohnhäusern ab. Genau dort, wo ihn das
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