Haveljagd (German Edition)
Ablehnung.
Michaelis sah zu Ollis Frau. Über ihre Augen hatte sich ein schillernder Glanz gelegt und ihr Blick wanderte in eine andere Zeit, in eine andere Welt. Woran mochte sie sich gerade erinnern? Ein romantisches Erlebnis bei Kerzenschein? Eng verschlungen bei einem Sonnenuntergang am einsamen Strand? Es gab so viele Möglichkeiten, aber Michaelis spürte instinktiv, dass alle eines gemein hatten. Sie hatten nichts mit Olli zu tun.
Die Kinder hatten die Würste verdrückt und verabredeten sich zu neuen Abenteuern. Tim musste jedoch noch warten und sah seinen Spielgefährten hinterher, die bereits wieder hinter dem roten Traktor zu verschwinden gedachten. Seine Mutter hatte ihn von dem leeren Teller noch nicht befreit.
»Mama, der Teller.«
Seine Hand hatte sich schon um den Joystick gelegt, er lauerte quasi darauf, dass die Ampel auf Grün sprang.
»Ja, gleich«, sagte Nina und erhob sich.
Olli hörte plötzlich mit dem Kauen auf. Mr. White war verstummt, eine Nachrichtensprecherin tat ihren Job. Olli beugte sich wieder zum Radio und stellte lauter.
»Was ist denn?«, wollte Frank wissen.
»Seid doch mal leise«, forderte Olli.
»Mama«, rief Tim ungeduldig dazwischen.
Aber keiner der Erwachsenen beachtete ihn mehr. Die waren damit beschäftigt, angestrengt den Worten der Nachrichtensprecherin zu folgen.
»… fand man am heutigen Tag die Leiche einer jungen Frau. Die achtundzwanzigjährige Journalistin lag in ihrer Wohnung in Brandenburg an der Havel, den Revolver noch in der Hand. Mit dem hatte sie sich Polizeiangaben zu Folge selbst in den Kopf geschossen. Das ist innerhalb von nur einer Woche schon der zweite Selbstmord dieser Art in der Stadt. Vor einer Woche war am Bohnenländer See das Ehepaar Becher …«
Nina stand plötzlich neben dem Radio und zog den Stecker aus der Verlängerungsschnur. Mit den Augen suchte sie ihren Sohn und fand ihn zusammengefallen in seinem Rollstuhl.
Die Worte aus dem Radio hatten sich augenblicklich in Tims Bewusstsein gebrannt und Seele und Leib in tiefen Schrecken versetzt. Seine Finger hatten den Joystick losgelassen und zuckten unkontrolliert in seinem Schoß. Nichts, kein Zentimeter seines Körpers erinnerte mehr an den kleinen Jungen, der bis vor einer Minute noch der Ausbund an Lebensfreude gewesen war. Der unerwartete Schmerz hatte Tim aus seiner unbefangenen Kindlichkeit gerissen.
15
Eine Stunde später bog Michaelis von der B 102 in den Waldweg ab, der zum Bohnenländer See führte und dort zum Blockhaus von Kurt und Eva.
Nina hatte das Radio nicht wieder angestellt und schließlich alle gebeten, sie mit ihrem Sohn besser allein zu lassen. Die Nachbarn hatten genickt, ihr dabei über die Schulter gestrichen und waren dann stumm der Aufforderung gefolgt. Michaelis hatte allerdings im Augenwinkel bemerkt, dass alle vier hinter der Hecke die Richtung geändert hatten, und Olli mit seiner Frau geradewegs in den Garten von Frank verschwand. Diese Neuigkeit schrie förmlich danach, ausgewertet zu werden.
Michaelis war als Einziger nicht gegangen. Er hatte sich vorgenommen, da zu sein für eine Mutter, der nun doch der Zufall zuvorgekommen war, und für ihr Kind, das völlig unvorbereitet den Tod seiner Großeltern verkraften musste. Eine halbe Stunde nach den Nachbarn war er dann aber doch gefahren, in der Tasche den Schlüssel zu Kurts Blockhaus, den er sich von Nina erbeten hatte.
Im Auto hatte er Andrea angerufen. Der hatte ihn aber nur hingehalten, ihn aufgefordert, später noch einmal anzurufen, da die Untersuchung in Inkas Wohnung noch andauere und die Einschätzung des Radiosenders, dass es sich wieder um einen Selbstmord handle, auf nichts fuße, worauf er auch nur einen Pflaumenstein verwetten würde. Es war offensichtlich, dass Manzettis freie Zeit gerade geendet hatte.
Michaelis erinnerte sich plötzlich daran, dass Inka im Laufe des Tages versucht hatte, ihn zu erreichen. Er hielt an und nahm sein Handy. Die Anrufhistorie hatte drei Anrufe von Inkas Apparat registriert. Alle kurz aufeinander folgend und in der Zeit, als er mit Malte Richter im Al Dente gesessen hatte.
Er legte den Rückwärtsgang ein und wendete den VW Käfer, fuhr zurück auf die B 102, bog nach rechts ab, in Richtung Rathenow. Er wollte nur fahren. Am besten im Kreis. Fahren, ohne Aussicht anzukommen. Irgendwie wollte er für immer in Bewegung bleiben, wollte nirgends landen, mit nichts konfrontiert werden.
Momentan ging ihm viel zu viel durch den Kopf. Auch
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