Havelwasser (German Edition)
der blauen Krawatte darunter, dass sie Vertrauen zu ihm gefasst hatte? Ihr Einkaufstrolley stand jedenfalls vor seinen Füßen.
„Wohin darf ich Ihnen denn die Tasche bringen?“, fragte er, als die Bahn hinter der Luckenberger Brücke stoppte. Er redete mit ihr, denn Kurt, wie sie ihn nannte, schlurfte bereits einige Schritte voraus.
„Nummer 248, bitte.“ Dann ging auch sie los und hatte dabei ihren Helfer immer im Auge.
„Kurt“, rief sie nach vorne. „Heb deine Füße!“ Aber Kurt reagierte gar nicht. „Ich muss dauernd seine Schuhe zum Schuhmacher bringen, weil er nicht mehr die Füße heben will. Aber in den Rollstuhl will der alte Zausel auch nicht.“
Manzetti zog es vor zu schweigen. Er hoffte, dass Kerstin und er in dreißig Jahren nicht auch so miteinander umgingen, und beschloss, heute seiner Frau mal wieder einen Strauß ihrer Lieblingsblumen mitzubringen.
„Wenn Sie mir die Tasche noch bis nach oben tragen, kriegen Sie auch einen Kaffee, junger Mann.“ Manzetti lächelte und folgte dem schrulligen Paar in den Hausflur, nachdem er tatsächlich auf den Klingelschildern auch Beckers Namen entdeckt hatte.
An der Tür, die von der alten Frau aufgeschlossen wurde, hing ein gedrechseltes Holzschild, auf dem die Namen Kurt und Else Müller standen. Die gegenüberliegende Tür gehörte zur Familie Becker, was ein solides Messingschild verriet.
„Stellen Sie den Trolley einfach in die Küche. Ich räume ihn nachher aus“, kommandierte Frau Müller und schickte den scheinbar willenlosen Kurt zum Fernsehen ins Wohnzimmer.
Manzetti sah sich in der Küche um. Sie war zweckmäßig, wenn auch etwas spartanisch eingerichtet. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemand mit Freude der Zubereitung gemeinsamer Mahlzeiten nachging. „Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen zu nahe trete, aber Sie sollten mit Ihrem Mann nicht so hart ins Gericht gehen, Frau Müller.“ Manzetti konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen und schützte nicht nur den armen Kurt, sondern im Geiste auch ein bisschen sich selbst.
„Das tue ich nicht, junger Mann“, antwortete sie und angelte nach einer Tasse und einer bemalten Kaffeedose.
„Mir reicht ein Glas Wasser, wenn es keine Umstände macht“, unterbrach er die Handgriffe der alten Dame und setzte einen freundlichen Gesichtsausdruck auf. Er hatte das flaue Gefühl, sich ein wenig zu weit hervorgewagt zu haben.
„Mit meinem Mann, Gott hab ihn selig, hätte ich so nicht reden dürfen. Der hätte mir was erzählt“, sagte sie, und plötzlich leuchteten ihre Augen unerwartet klar, während sie den knochigen und krummen Zeigefinger mahnend in die Höhe schraubte. „Der gute alte Karl Ratzmann hätte gesagt: Anna, mein Kind, welche Laus ist dir über die Leber gelaufen, dass du so mit mir sprichst? Nein“, sie schüttelte vehement ihren Kopf, „nein, Karl Ratzmann hätte niemand so angesprochen. Niemand!“ Dann goss sie ein Glas Wasser ein und hielt es Manzetti zittrig hin.
„Danke. Dann sind Sie gar nicht Else Müller?“
„Nein, bin ich nicht. Ich heiße Anna Ratzmann, und mein Karl ist vor elf Jahren gestorben. Kurt ist mein Bruder. Den habe ich von meiner Mutter geerbt, die hieß Else, und um den muss ich mich nun kümmern. Er würde sonst ganz verloddern.“ Sie setzte sich mit einem tiefen Seufzer auf einen Küchenstuhl.
„Kurt ist ein Taugenichts und das war er schon immer. Aber Karl Ratzmann, das war ein ganzer Kerl. Schon damals bei den Soldaten hat er allen gezeigt, wo es langging. Leider haben ihn die Russen eingesperrt, und ich musste lange Jahre auf ihn warten. Die haben ihn sogar bis nach Sibirien verschleppt“, entrüstete sie sich noch sechzig Jahre später mit weit aufgerissenen Augen.
Manzetti setzte sich der alten Frau gegenüber und überschlug kurz, dass Karl Ratzmann bei Ausbruch des Krieges etwa zwanzig Jahre alt gewesen sein musste. „Ihr Mann war während des Krieges noch ziemlich jung, nehme ich an. Hat er denn schon einen so hohen Rang bekleidet, dass alle auf ihn hören mussten.“
„Der war deutscher Gefreiter, junger Mann. Damals war das noch was. Damals hatte man noch Anstand und Ehre.“
Er nickte und trank das lauwarme Wasser. „Darf ich Ihnen noch eine Frage zu den Nachbarn Ihres Bruders stellen, bevor ich weiter muss?“
Frau Ratzmann stützte ihre knochigen Hände auf die dünnen Oberschenkel, die sich unter dem Rock scharf abzeichneten, und beugte sich leicht nach vorn. „Sie sind von der Polizei. Wusste ich’s
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