Havelwasser (German Edition)
Kreislaufzusammenbrüchen, aber dass jemand mit einer Fremden, und das musste Kerstin ihr gegenüber inzwischen geworden sein, denn in den zwanzig Jahren ihrer Ehe war der Name Becker nicht ein einziges Mal gefallen, dass jemand also scherzte und lachte, das war ihm bislang noch nicht begegnet.
Dann sprach er sie an: „Frau Becker …“
Sie reagierte sofort, und ihre Augen wechselten von Kerstin zu ihm, und ihre Hände griffen nach dem Weinglas, das vor ihr stand. Jede ihrer Bewegungen wirkte anmutig und keineswegs aufgesetzt.
„Frau Becker“, setzte Manzetti erneut an, „wenn ich Ihnen mit meinen Fragen zu nahe treten sollte, dann weisen Sie mich einfach in die nötigen Schranken.“ Es war der Satz, den er zumeist beim ersten Kontakt mit Angehörigen von Mordopfern benutzte.
„Danke“, sagte sie und lächelte weiter dieses Lächeln, dem eine eigene Faszination innewohnte.
„Empfinden Sie Trauer?“
„Trauer?“, fragte sie nach, als hätte sie die Frage akustisch nicht verstanden.
„Ja, Trauer. Wie sie bei Menschen üblich ist, die jemanden verlieren, der ihnen sehr nahe stand“, erklärte Manzetti seine Frage.
„Herr Manzetti, von Trauer kann hier bestimmt nicht die Rede sein. Auch auf die Gefahr hin, Sie damit zu enttäuschen. Ich empfinde keine Trauer. Warum auch? Mein Mann und ich, wir lebten schon viele Jahre in einer Beziehung, die diesen Namen gar nicht mehr verdiente.“
Er antwortete ihr mit bemüht neutraler Mimik. „Aber doch gut genug, um noch eine gemeinsame Wohnung zu haben.“
„Sie sollten daraus aber keine falschen Schlüsse ziehen“, konterte sie und suchte wieder Blickkontakt zu Kerstin, die ihr ermunternd zunickte.
„Welche falschen Schlüsse könnte ich denn ziehen?“ Er bohrte weiter, wenn auch vorsichtiger.
„Vielleicht fragen Sie sich ja inzwischen, ob eine Wilde etwas mit diesem Verbrechen zu tun haben könnte?“ Damit unterstellte sie Manzetti Überlegungen, die er noch gar nicht anstellen wollte.
„Nein, das frage ich mich nicht. Wirklich nicht. Aber Sie werden verstehen, wenn Ihre Fröhlichkeit … wenn das nicht sofort auf Verständnis stößt, oder?“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich habe mit derartigen Fragen gerechnet und bin überzeugt, dass Sie mich in den nächsten Tagen wieder aufsuchen werden. Ganz amtlich, meine ich, und nicht zufällig in Ihren eigenen vier Wänden.“
Sie hatte Recht, und Manzetti wollte es fürs Erste dabei bewenden lassen.
„Warum nennt diese Frau dich eine Wilde?“, kam ihm Kerstin dann auch noch ungewollt zu Hilfe.
„Ich weiß es wirklich nicht. Aber vielleicht könnte ich es mir vorstellen.“
„Dann lassen Sie es mich hören“, forderte er und rutschte auf seinem Stuhl näher an den Tisch und damit an Verena Becker heran.
„Als wir nach Deutschland kamen, hatte Martin die Wohnung in der Kanalstraße bezogen, und ich habe die ersten Tage in Berlin gewohnt. Bei einer Kollegin, um öfter im Tierpark sein zu können. Die Nachbarn kannte ich damals also gar nicht, und sie haben mich erst viel später zu Gesicht bekommen.“
„Wie können sie dich dann aber als Wilde bezeichnen?“, mischte sich Kerstin erneut ein.
„Martin wird sicherlich brav auf die eine oder andere Frage geantwortet haben, und den Rest spinnen sich alte Leute dazu.“
„Welcher Rest sollte das sein?“, fragte nun wieder Manzetti.
„Er hatte ihnen erzählt, dass er verheiratet sei und seine Frau aus Afrika komme. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich mit meinen Eltern dorthin musste. Mein Vater betreute für die Regierung von Angola landwirtschaftliche Projekte. Für die Deutschen, die mich noch nie gesehen hatten, hieß das allerdings, die Frau müsse eine Schwarze sein, wenn sie doch aus Afrika stammte, und das bedeutete dann auch gleich noch, dass sie wild sein müsste. In Afrika leben natürlich auch Weiße, und nicht einmal wenige, außerdem sind nicht alle Schwarzen wild und manche Wilde sogar zivilisierter als wir.“
„Aber mittlerweile hat Frau Ratzmann doch sogar mit Ihnen geredet. Dabei kann Ihre weiße Hautfarbe der alten Dame nicht entgangen sein.“
„Das nicht. Vielleicht bin ich ihr ja mal zu nahe getreten“, sagte sie und lächelte herausfordernd.
„Na gut.“ Manzetti nickte. „Wer hat Sie eigentlich vom Tod Ihres Mannes unterrichtet?“
„Ihre Kollegen. Sie riefen mich heute Morgen an und sagten, dass Martin ermordet wurde.“
Wie pietätlos, dachte Manzetti. Man übermittelt doch
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