Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Havelwasser (German Edition)

Havelwasser (German Edition)

Titel: Havelwasser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
Vom Netzwerk:
hier. Passt irgendwie zu Ihnen. Auf Wiedersehen.“
    Frau Ratzmann strich mit ihren Fingern über die Wand.„Braun? Die ist doch grün.“
    Manzetti klingelte noch bei Familie Becker, doch es öffnete niemand. Trotz der Mittagshitze von inzwischen fünfunddreißig Grad war er froh, wieder auf der Straße zu stehen. Aber welchen Sinn hatte es, Front gegen eine von Altersstarrsinn zerfressene Frau zu machen? Es würde wohl noch lange dauern, bis die letzten braunen Köpfe in diesem Land verschwunden waren. Leider wuchsen aber immer neue nach.
    In der Jahnstraße kaufte er einen großen Strauß Gladiolen und ging dann über den Jungfernsteig nach Hause. Es war bereits dreizehn Uhr, und Kerstin würde schon warten. Vor seiner Wohnung fielen ihm ein Paar neue Schuhe auf, was aber nichts Ungewöhnliches war, denn Kerstin kaufte mindestens einmal im Monat Schuhe. Immer weil die alten irgendwas waren oder eben nicht mehr. Er merkte sich die Begründungen schon lange nicht mehr, freute sich aber über Kerstins Glück.
    „Hallo Schatz“, empfing sie ihn schon an der Tür und strahlte übers ganze Gesicht. „Sind die für mich?“ Sie nahm ihm die Gladiolen ab und küsste ihn heftig auf die Lippen.
    „Natürlich sind die für dich“, sagte er mit einer kaum zu überbietenden Selbstverständlichkeit.
    „Die sind aber schön. Danke.“ Dann schnappte sie sich seine Hand und zog ihn in die Wohnung.
    „Ich wollte dir eine Freude machen. Wie ich aber im Flur gesehen habe, hast du dir schon selbst eine gemacht.“ Seine Anspielung galt dem neuen Paar Sandalen.
    „Du meinst die Schuhe? Das sind nicht meine.“ Sie zog ihn weiter mit sich fort und ließ ihn erst im Wohnzimmer los. Dort schaute ihm eine Frau in Kerstins Alter erwartungsvoll entgegen.
    „Das ist Verena Heise.“ Kerstin strahlte über das ganze Gesicht und stellte sich neben ihre Besucherin.
    So, wie sie da nebeneinander standen, konnte man fast meinen, sie seien Zwillingsschwestern. Eine schöner als die andere, egal von welcher Seite man die Betrachtung begann. Beide mit einem sommerlichen Teint, mit rötlichen Haaren und einem Lächeln, das nicht nur ihre Natürlichkeit zum Ausdruck brachte, sondern auch ihren Lebensmut.
    „Verena ist eine alte Schulfreundin von mir, und wir haben uns schon ewig nicht mehr gesehen. Aber heute stand sie plötzlich vor mir in der Bank, und wir haben uns sofort wiedererkannt. Auch wenn der Anlass eigentlich traurig ist.“
    Manzetti sah Verena Heise fragend an.
    Die antwortete mit einer sehr weichen Stimme. „Kerstin kennt mich noch als Verena Heise, aber eigentlich heiße ich jetzt Becker, und mein Mann wurde heute ermordet aufgefunden, aber das wissen Sie ja sicherlich schon.“
    „Sie sind also die Wilde?“
    „Sie ist doch keine Wilde. Andrea, wie kommst du denn darauf?“, hörte er die Empörung seiner Frau.

9
    „Ja, wie kommen Sie denn darauf, dass ich eine Wilde bin?“ Verena Becker begleitete ihre Frage mit unverschämt neugierigen Augen und legte den Kopf kokettierend zur Seite, so, dass ihr halblanges Haar locker auf die rechte Schulter fiel.
    „Ihre Nachbarin“, antwortete Manzetti und verbesserte sich schnell. „Um genauer zu sein, es war eine Verwandte Ihres Nachbarn, die diese Meinung vertrat.“ Er hatte den ersten Schock überwunden und bemühte sich nun um das Maß an Vertrautheit, das seiner Meinung nach der häuslichen Atmosphäre angemessen war.
    „Schmeckt es dir nicht, Andrea?“ Kerstin hatte ihren Mann lustlos mit der Gabel in der Pasta herumstochern gesehen. Sie hatten sich zu Tisch begeben, so wie es mittags bei ihnen üblich war, und da im Hause Manzetti die Pasta reichlich gekocht wurde, hatte Verena Becker kurzerhand eine Einladung erhalten.
    Manzetti führte die von Nudeln umwickelte Gabel zum Mund und biss in die Zitronenspaghetti, eine leichtbekömmliche und bei den Temperaturen erfrischende Mahlzeit. Dazu ein leichter Rosé, und für Manzettis verwöhnten Gaumen war der Tag normalerweise gerettet.
    „Es schmeckt ausgezeichnet. Wie kann es auch anders sein“, lobte er die Kochkünste seiner Frau und ließ dabei Verena Becker keine Sekunde aus den Augen, nicht allein wegen der Faszination, die von ihr ausging, sondern auch, weil er etwas an ihr vermisste.
    Manzetti hatte bei den Hinterbliebenen von Gewaltopfern schon die verschiedensten Reaktionen erlebt. Sie reichten von apathischer Gleichmütigkeit über tobendes Kreischen und Selbstverletzungen bis hin zu

Weitere Kostenlose Bücher