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Havelwasser (German Edition)

Havelwasser (German Edition)

Titel: Havelwasser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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Hände wie zum Stoßgebet zusammendrückte. Er hoffte, dass die beiden Mordopfer irgendwo und irgendwann mal am gleichen Ort waren und er dort mit den Ermittlungen beginnen konnte. Er hatte doch nichts weiter.
    „Ich brauche mehrere Tage, bis ich das gewünschte Ergebnis habe, denn ich muss diesen delikaten Auftrag in meiner Freizeit und Ihrem Wunsch entsprechend ganz allein erledigen.“
    „Dann los, Bremer“, sagte er mit inzwischen zugehaltener Nase und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. „Und schmeißen Sie die Leiche des Obdachlosen nicht weg!“
    „Natürlich nicht, wo denken Sie hin? Aber was sage ich dem Staatsanwalt, wenn der die Leiche freigeben will?“ Bremer stützte seine Hände auf dem Bauch der vor ihm liegenden Leiche ab, die sich dadurch unnatürlich heftig bewegte, so, als wollte sie aufstehen.
    „Dann sagen Sie ihm, dass Sie noch nicht fertig sind oder …“, Manzetti zeigte mit einem neuen Würgereiz in Richtung des Tisches, „… dass er noch zappelt.“

8
    Als Manzetti sich vom Leichengeruch langsam erholt hatte, griff er in die Hosentasche und tupfte sich mit dem zutage geförderten Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. Dabei fiel ein Zettel zu Boden. Er nahm ihn hoch und faltete ihn auseinander. Kanalstraße 248, las er, als er das winzige Blatt über dem Oberschenkel glatt strich. Es war die Adresse von Martin Becker, dem Mann, der jetzt, anstatt in der Schule zu unterrichten, bei Dr. Bremer lag.
    Manzetti hatte die Wahl zwischen einem Spaziergang, denn die Kanalstraße war nicht zu weit entfernt, oder aber der Straßenbahn. Er entschied sich für das öffentliche Verkehrsmittel, denn zu Fuß hätte er durch die Neuendorfer Straße gemusst, durch die sich zu fast jeder Stunde des Tages ein Autokonvoi mit genervten und von Baustellen geplagten Fahrern schob, die meist alleine in ihren Wagen saßen und ihren Frust über die Hupe oder durch Drohgebärden aneinander ausließen. Das wollte er sich nicht antun, betrat also den Haltestellenbereich am Nicolaiplatz und wartete zusammen mit einem älteren Paar auf die Straßenbahn. Der Mann trug einen braunen abgetragenen Anzug, womöglich sein einziger und deshalb so oft benutzt, und sie einen grauen Rock, darüber eine geblümte Bluse, die den Blick auf ihre dürren und knochigen Unterarme freigab. Ihr Haar war pedantisch frisiert, er dagegen hätte schon vor Wochen unbedingt zum Frisör gemusst.
    „Kurt, unsere Bahn“, blaffte sie ihn an und puffte ihm mit der Faust gegen die Schulter. Wortlos folgte der Alte ihr auf die Fahrbahn und ließ sie auf den Türöffner drücken.
    „Darf ich Ihnen helfen?“, fragte Manzetti und schob bereits eine Hand in Richtung des Einkaufstrolleys, der für die alte Frau nur sehr schwer über die hohe Stufe bis in den Fahrgastraum zu heben war.
    Sie blickte ihn aus tiefen Augenhöhlen an, und Manzetti glaubte, Angst darin zu erkennen. Angst davor, dass er sich mit dem Trolley aus dem Staub machte und weder sie noch ihr Mann das verhindern konnten. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich will Ihnen nur in die Bahn helfen“, sagte er schnell und hoffte, dass die Alte nicht gleich loszeterte.
    „Ich habe keine Angst, junger Mann. Aber das ist mir vor zwanzig Jahren das letzte Mal passiert.“ Dann überließ sie Manzetti ihren Trolley und stieg ein. Er setzte sich hinter das Pärchen in die fast leere Bahn und stellte den kleinen Koffer neben die beiden in den Gang.
    „Wie weit fahren Sie, junger Mann?“, fragte die Alte mit krächzender Stimme, ohne sich dabei zu ihm umzudrehen.
    „Bis zur Kanalstraße“, antwortete er brav, erhielt aber keine weitere Entgegnung. Manzetti dachte über das nach, was die alte Frau beim Einsteigen gesagt hatte. Er selbst empfand es ja sehr ähnlich. Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft gab es immer seltener. Wer bot schon noch einem alten Menschen selbstlos seinen Platz an? Vielmehr amüsierten sich manchmal Schüler auf dem morgendlichen Weg zum Gymnasium, wenn ein alter Herr, der vielleicht zum Arzt unterwegs war, beim Bremsmanöver den Halt verlor und zwischen ihre Schultaschen fiel.
    „Kanalstraße, junger Mann.“ Die Alte stand neben ihm, und ihre grauen Augen tasteten Manzetti aus ihren tiefen Höhlen heraus ab. Sie schien zu überlegen, ob er vertrauenswürdig oder aber doch ein Ganove war. Dann drehte sie sich um und tippelte, ihren Mann im Schlepptau, zur Tür der Bahn. Lag es an seinem dunklen italienischen Anzug mit dem blauen Hemd und

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