Havenhurst - Haus meiner Ahnen
abstützen, weil ihre Knie nachzugeben drohten. Ian Thornton ... Sein Name wirbelte durch ihre Gedanken, und ihre Gefühle schwankten zwischen Abscheu, Demütigung und Furcht.
Schließlich nahm sie sich zusammen und trat in einen kleinen Salon. Dort ließ sie sich aufs Sofa sinken und schaute blicklos auf den hellen Fleck an der Tapete, wo einmal das kostbare Rubens-Gemälde gehangen hatte.
Keinen einzigen Moment glaubte sie, daß Ian Thornton sie heiraten wollte, und sie konnte sich absolut nicht vorstellen, was ihn dazu bewogen haben mochte, das empörende Angebot ihres Onkels anzunehmen.
Thornton mußte sie doch für eine naive, einfältige, leichtgläubige Närrin halten. Auch sie selbst vermochte ja kaum zu glauben, wie sorglos oder gar leichtfertig sie an jenem so lange zurückliegenden Wochenende gewesen war, an dem sie ihn kennengelernt hatte. Damals war sie sich ihrer sonnigen Zukunft so sicher gewesen, und sie hatte auch keinen Grund gehabt, die Dinge anders zu sehen.
Als sie elf Jahre alt gewesen war, waren ihre Eltern umgekommen, und das war eine traurige Zeit für sie gewesen, aber Robert hatte sie getröstet und aufgemuntert. Er war acht Jahre älter als sie und als Sohn aus der ersten Ehe ihrer Mutter nur ihr Halbbruder, aber sie hatte ihn stets geliebt und sich vertrauensvoll auf ihn verlassen.
Abgesehen von dem Verlust ihrer Eltern hatte Elizabeth tatsächlich eine sehr erfreuliche Kindheit verbracht. Mit ihrem fröhlichen Wesen und ihrem hübschen Gesicht war sie der erklärte Liebling aller Dienstboten. Die Köchin steckte ihr Süßigkeiten zu, der Butler lehrte sie das Schachspiel, und Aaron, der Kutscher, brachte ihr das Kartenspielen und in späteren Jahren auch den Umgang mit der Pistole bei für den Fall, daß sie sich einmal würde verteidigen müssen.
Oliver jedoch war von allen ihren Freunden auf Havenhurst derjenige, mit dem sie die meiste Zeit verbrachte. Er war der Gartenmeister und hatte sie früher immer durch das Gewächshaus geführt. Von ihm hatte sie die Namen und Eigenschaften der Pflanzen kennengelernt und viel über Züchtung, Veredelung, Düngung und über das, was er seine „Pflanzenmedizin“ nannte, erfahren.
Eines Tages fragte er, ob Elizabeth nicht ihren eigenen kleinen Garten haben wollte, und als sie nickte, suchte er sofort mit ihr zusammen die ersten Pflanzen dafür aus. An diesem Tag begann Elizabeths aufrichtige und dauerhafte Liebe zu allem, was wuchs und gedieh.
Außer an ihrer Gartenarbeit und ihrem kameradschaftlichen Verhältnis zu den Dienstboten hatte sie sich damals sehr an ihrer Freundschaft mit Alexandra Lawson erfreut. Alexa war ihre nächste Nachbarin gewesen und drei Jahre älter als Elizabeth, aber die beiden Mädchen hatten ihr unbändiges Vergnügen daran geteilt, einander nachts im Bett die blutrünstigsten Geistergeschichten zu erzählen oder in Elizabeths Baumhaus zu sitzen und sich gegenseitig ihre Geheimnisse und stillen Träume anzuvertrauen.
Nachdem Alexa geheiratet hatte und fortgezogen war, hatte sich Elizabeth dennoch nicht einsam gefühlt, denn sie besaß ja etwas, das alle ihre Gedanken und ihre meiste Zeit in Anspruch nahm: Havenhurst.
Havenhurst, ursprünglich eine Burg mit Burggraben und dickem Schutzwall, war im zwölften Jahrhundert das Erbe einer von Elizabeths Ahnfrauen gewesen, und von da an wurde es immer an die Nachkommen dieser Vorfahrin weitervererbt, gleichgültig, ob es sich dabei um männliche oder weibliche Nachfolgen handeln mochte.
Auf diese Weise war Elizabeth im Alter von elf Jahren nach dem Tod ihres Vaters die Countess of Havenhurst geworden, und obwohl ihr dieser hohe Titel wenig bedeutete, bedeutete ihr Havenhurst mit seiner bewegten Geschichte alles. Schon vor Jahrhunderten war der alte Burggraben zugeschüttet und die Schutzmauer abgerissen worden. Das Herrenhaus selbst war im Laufe der Zeit verändert und vergrößert worden, so daß es keine Ähnlichkeit mehr mit dem ursprünglichen Bau hatte, sondern zu einem malerischen, weitläufigen Landsitz in angenehmer Umgebung geworden war.
Im Alter von siebzehn Jahren unterschied sich Elizabeth erheblich von den meisten adligen jungen Ladys. Ungewöhnlich gut belesen, ernsthaft und praktisch denkend, lernte sie von dem offiziellen Gutsverwalter, wie sie ihren eigenen Besitz selbständig führen konnte. Da sie ihr ganzes Leben lang von vertrauenswürdigen Erwachsenen umgeben gewesen war, dachte sie in ihrem naiven Optimismus, alle Menschen müßten so
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