Havoc
sich explosionsartig auflösten, sobald man sie ansprach. Andere wechselten so rasend schnell ihre Gestalt, als würde man im Sekundentakt durch Fernsehkanäle zappen.
Seltsamerweise hatte sie sich schon bald an die fremdartigen Geschöpfe gewöhnt, obwohl sie vor nicht allzu langer Zeit noch nicht einmal daran geglaubt hatte, dass diese Welt überhaupt existierte. Sie hatte Malice für ein albernes Gerücht gehalten, das Jugendliche aus Langeweile auf dem Schulhof verbreiteten. Aber jetzt saß sie hier in dieser verdreckten Trinkstube in einem der heruntergekommensten Viertel der Stad t – mitten in Malic e – und alles war genauso real wie in der Welt, aus der sie kam: der Duft von Zigarren und Grillfleisch, der die Luft schwängerte. Die lauten Stimmen und das Lachen der Leute, die an den Tischen saßen oder an der Theke lehnten. (Kady benutzte den Begriff »Leute« mittlerweile sehr weit gefasst.) Die Wärme der verschwitzten Körper und des Feuers aus der Küche.
Sie selbst war so absurd angezogen, dass man sie in Kalifornien, wo sie ursprünglich herstammte, ausgelacht hätte. Hier wunderte sich niemand über ihren bizarren Aufzug.
Es war eine Tatsache. Sie lebte jetzt in einem Comicheft.
Justin stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und beugte sich vor. »Bevor wir hier groß Wiedersehen feiern, würde ich gern was klären«, sagte er leise zu Scotty. »Kannst du uns zu Havoc bringen oder nicht?«
»Na klar.« Scotty sah Kady lächelnd an. »Ich freu mich schon auf die Gesichter der anderen, wenn sie dich sehen. Die werden sich total freuen, dass du wieder da bist.«
»Dass ich wieder da bin?«, fragte Kady überrascht. »Heißt das, ich war schon mal Mitglied bei Havoc?«
Scotty sah sie an, als hätte sie einen Witz gemacht. » Mitglied? Du warst unsere Anführerin!«
Kady war sprachlos. Justin klappte die Kinnlade herunter.
Plötzlich sprang Scotty auf und sagte mit sachlicher Stimme: »Hört zu. Ich erkläre euch alles Weitere auf dem Weg zu unserem Versteck, okay? Aber jetzt sollten wir lieber losgehen. Unter den gegebenen Umständen können wir uns die übliche Aufnahmeprüfung für neue Rekruten wahrscheinlich sparen.« Er ging in gebührendem Abstand um Tatyana herum und beäugte sie misstrauisch. »Hübscher Tiger übrigens, den ihr da mithabt.«
»Sag mal, Scotty?« Kady war eine Idee gekommen. »Bei euch hat sich in letzter Zeit nicht zufälligerweise ein Junge namens Seth gemeldet, oder? Könnte sein, dass er nach mir gefragt hat.«
Scotty schüttelte den Kopf. Er hatte den Namen offensichtlich noch nie gehört. »Tut mir leid. Einen Seth gibt es bei Havoc nicht.«
Kady sah einen Moment lang traurig aus, dann rang sie sich ein Lächeln ab. »Na ja, hätte ja sein können«, sagte sie.
2
Ein ganzer Monat war vergangen, seit Kady sich in Skarlas Wohnhöhle von Seth verabschiedet hatte.
Es war schrecklich gewesen. Sie hatte sich in den Nebenraum geflüchtet, um ihre Tränen zu verbergen und weil sie einfach nicht mit ansehen konnte, wie ihr bester Freund durch die runde Holztür verschwand und in die Welt zurückkehrte, aus der sie kamen. Aber für Abschiedsschmerz war keine Zeit geblieben. Sobald Seth gegangen war, hatte die Wahrsagerin Skarla sie und Justin zum Aufbruch gedrängt. Das Wesen, das halb Mensch, halb Pflanze war und in einer grausamen Unterwelt namens Oubliette lebte, hatte sie durch ein labyrinthartiges Tunnelsystem zurück an die Oberfläche geführt. Skarla kannte sämtliche geheimen Abkürzungen, um sie an den blutrünstigen Ungeheuern und tödlichen Fallen vorbeizuführen, die den Weg nach unten so beschwerlich gemacht hatten und die sie beinahe das Leben gekostet hätten. Oben angekommen, hatte die Wahrsagerin ihnen den Weg zur Stadt gewiesen, sie zur Vorsicht gemahnt und ihnen viel Glück gewünscht. Danach war sie eilig wieder unter der Erde verschwunden.
Kady und Justin hatten sich auf einer Wiese unter einem fahlgrauen, wolkenverhangenen Himmel wiedergefunden. Einsame Hügel und Wälder beherrschten die Landschaft, die von einer geradezu melancholischen Schönheit war. Nach all dem Grauen, das Kady in der Oubliette erlebt hatte, wirkte der Anblick auf sie unglaublich friedlich und beruhigend.
Um keine kostbare Zeit zu verlieren, machten sie sich sofort Richtung Stadt auf, deren Türme sie in der Ferne aufragen sahen. Nach einer Weile gelangten sie zu einem Dorf, dessen Bewohner sie freundlich aufnahmen. Sie gaben ihnen zu essen und warnten sie eindringlich
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