Havoc
Wagens Platz nahmen. Ansonsten war niemand zu sehen. Die Türen schlossen sich zischend, und im nächsten Moment setzte der Zug sich auch schon wieder schwerfällig in Bewegung. Scotty und Kady setzten sich, während Justin sich noch umblickte.
»Wo steckt denn der unheimliche Schaffner? Ich wette, er ist irgendwo ganz in der Näh… Aaahhh!« Er schrie erschrocken auf, als er sich umdrehte und plötzlich dem Fahrkartenkontrolleur gegenüberstand. Wie aus dem Nichts war er hinter ihm aufgetaucht und starrte ihn aus den dunklen Augenhöhlen einer gruseligen weißen Maske ausdruckslos an.
»Die Fahrscheine bitte.«
Im Chatroom
1
Über die Autobahn brauchten sie nach Leicester nur zwanzig Minuten. Seth saß neben der schweigenden Alicia auf der Rückbank des Wagens. Zum ersten Mal seit langer Zeit entspannte er sich. Endlich ergab alles einen Sinn. Nachdem er einen Monat lang rastlos durch Hathern gestreift war, wusste er jetzt, was er zu tun hatte. Er musste so schnell wie möglich nach Malice zurück.
Kurz nachdem sie die Autobahn verlassen hatten und auf der Narborough Road Richtung Innenstadt fuhren, tauchten die ersten Wohnhäuser auf. Auch hier zogen dunkle Wolken über den Himmel. Allerdings gab es keine Hinweise auf einen Gewittersturm, wie er eben noch über Hathern getobt hatte. Dem trockenen Straßenbelag nach zu urteilen, hatte es noch nicht einmal geregnet.
Seth starrte aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Häuserreihen. Trostlose Ziegelgebäude und von Fassaden abblätternder Putz, still vor sich hin modernde Fensterrahmen und vergilbte Gardinen, Chipstüten, die der Wind über den Gehweg trieb, misstrauisch blickende Passanten und Graffiti, die die Häuserwände überzogen wie leuchtend bunte Spinnweben. Er spürte das vertraute Unbehagen in sich aufsteigen, das ihn immer überkam, wenn er in einer größeren Stadt war. Überall nur Beton und Asphalt, die ihn erdrückten und ihm das Gefühl gaben, eingesperrt zu sein.
»Du kannst uns da vorne rauslassen.«
Lemar hielt vor dem Haus, auf das Alicia deutete, und sie stiegen aus.
»Bist du sicher, dass du klarkommst?«, fragte Lemar seine Schwester und warf Seth einen warnenden Blick zu. Er wusste, dass Seth etwas damit zu tun hatte, dass Alicia ihre Pläne geändert hatte, und es passte ihm ganz offensichtlich nicht, nicht zu wissen, was dahintersteckte. »Soll ich dich nicht doch lieber zu Sally fahren?«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Alicia. »Und sag Dad, dass ich ihn nachher anrufe.«
»Okay«, knurrte ihr Bruder widerwillig. »Dann also bis später. Und vergiss nicht, ihm zu erklären, wie das mit dem Wagen passiert ist und dass ich nicht schuld daran bin.«
»Natürlich nicht.«
Lemar warf Seth noch einen letzten drohenden Blick zu, dann fuhr er los. Alicia seufzte und lächelte Seth entschuldigend an. »Mein Bruder hat einen ziemlich ausgeprägten Beschützerinstinkt.«
»Das hab ich gemerkt.«
»Komm mit.« Alicia ging an dem Haus vorbei, vor dem Lemar sie abgesetzt hatte, und bog an der nächsten Ecke in eine schmale, dunkle Gasse, die zwischen zwei roten Backsteinhäusern hindurchführte. Nach ein paar Metern blieb sie vor einem kleinen Holztor stehen, hinter dem ein ziemlich verwahrloster Garten lag, und öffnete es. »Hier wohnt mein Freund Philip«, erklärte sie, während sie auf eine Hintertür zugingen, in deren Kunststoffrahmen zwei geriffelte Glasscheiben eingesetzt waren. Sie klopfte an eine der Scheiben. »Ich war früher oft zum Spielen hier. Wir waren in der Grundschule ziemlich gut befreundet.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Na ja, jetzt sehen wir uns eigentlich nur noch in der Schule. Er ist in meinem Kunstkurs, deshalb weiß ich auch, dass er so ein Malice-Fan ist. Er redet die ganze Zeit von nichts anderem.«
»Du bist im Kunstkurs?«, sagte Seth überrascht. »Damit hätte ich bei einem Mathegenie wie dir gar nicht gerechnet.«
Alicia warf ihm einen skeptischen Blick zu, als wäre sie sich nicht sicher, ob er sich über sie lustig machte. Als sie sah, dass Seth ehrlich erstaunt war, schob sie seufzend ihre Brille hoch und sagte: »Stimmt. Ich bin wirklich ziemlich gut in Mathe. Und wenn es nach meinen Eltern gehen würde, dürfte ich mich nur auf die naturwissenschaftlichen Fächer konzentrieren. Die träumen nämlich davon, dass ihre Tochter später mal Professorin wird. Mindestens. Aber ich hab Kunst belegt, weil ich Illustratorin werden will. Ganz egal, was meine Eltern sagen.«
Hinter der Glasscheibe
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