Havoc
sie plötzlich vor einem gemauerten Graben, durch den einmal ein Fluss quer durch die Stadt geströmt war. Der Kanal! Von der Straße aus führte eine Reihe von Stufen in die ausgetrocknete Mulde hinunter, und auf der Mauer daneben saß ein schwarzer Kater, dem Seth schon einmal begegnet war. Andersen. Seth war sich fast sicher, dass er einen Moment lang die Zähne bleckte, als er ihn sa h – den Jungen, der ihm seine Erinnerungen gestohlen hatte.
Vorsichtig, um nicht zu stolpern, schwankte er mit Justin auf dem Rücken die Stufen hinab. Andersen beobachtete sie von oben und folgte ihnen erst, als sie sicher unten angekommen waren.
Das furchterregende Rumpeln der Mosaikmonster war hier nur noch ganz schwach zu hören. Die beiden Katzen eilten voraus. Kady, Tatyana und Seth folgten ihnen. Seth konnte sich kaum noch aufrecht halten und taumelte wie in Trance vorwärts. Seine Rückenwirbel fühlten sich an, als würden sie von einem tonnenschweren Gewicht zusammengepresst. Er war so erschöpft, dass er kaum noch wusste, wo oder wer er war.
Doch er setzte weiter einen Fuß vor den anderen, bis sie endlich vor der Brücke standen, die er in seiner Vision gesehen hatte. Unter dem Brückenbogen gähnte eine dunkle Tunnelöffnung.
Ich muss es nur noch bis zu diesem Tunnel schaffen .
Schritt für Schritt stemmte er sich vorwärts. Der Tunnel hatte ein leichtes Gefälle. In seinem völlig erschöpften Zustand kam es ihm jedoch eher wie ein Steilhang vor.
Es kann nicht sehr weit hinuntergehen, gleich ist es geschafft.
Er nahm nichts mehr um sich herum wahr. Kady sagte etwas zu ihm, aber er verstand sie nicht. Dem Tonfall nach zu urteilen, sprach sie ihm Mut zu. Der Tunnel war so dunkel, dass er sich nur am Leuchten von Tatyanas grünen Augen orientieren konnte.
Irgendwann wurde es heller und der Weg verlief wieder eben. Seth hätte vor Erleichterung fast gelächelt, wenn er nicht selbst dazu zu müde gewesen wäre. Vor ihnen versperrte ein von roten Gräsern und Schlingpflanzen überwuchertes Gitter den Weg. Die beiden Katzen flitzten voraus und schlüpften geschickt durch die Gitterstäbe. Als Kady, Seth und Tatyana dort ankamen, öffnete sich das Gitter quietschend. Seth war froh, dass er nicht stehen bleiben musste. Er wusste, dass er sonst nicht in der Lage gewesen wäre weiterzugehen.
Mit allerletzter Kraft schleppte er sich mit Justin vorwärts. Vielleicht waren es noch zweihundert Meter, vielleicht nur hundert. Das Ende des Tunnels kam mit jedem Schritt näher.
Gleic h … gleich hab ich es geschafft .
Und dann waren sie endlich im Tempel der Königin der Katzen angekommen.
3
Am Ende des Tunnels öffnete sich eine gigantische unterirdische Grotte, deren Innenraum wie ein griechisches Amphitheater aussah. In einem Halbkreis stiegen steinerne Treppenstufen in die Höhe. Wasser plätscherte in schmalen Kanälen die Stufen hinab und sammelte sich in der Mitte der Grotte in einem kreisrunden Becken. Aus dem Stein wuchsen riesige, exotische Bäume, an deren Ästen weißlich schimmernde Lichtkugeln hingen. Anscheinend benötigten sie weder Sonnenlicht noch Erde. Zu beiden Seiten des Wasserbeckens waren Feuerstellen in den Fels gehauen, in denen Holzscheite glühten, die das Gewölbe mit ihrem roten Schein erhellten und tröstliche Wärme spendeten.
Und dann waren da die Katzen. Die gesamte Grotte war von ihnen bevölkert. Katzen in allen erdenklichen Größen und Farben, die träge auf den Stufen oder im Geäst der Bäume lagen. Es gab schlanke, gepardenähnliche Tiere mit stacheligen Mähnen und flammend rot und gelb gezeichnetem Fell. Andere hatten eher die Größe von Hauskatzen, waren aber geisterhaft weiß und haarlos und huschten geschickt wie Eichhörnchen durch die Wipfel der Bäume. Wieder andere waren nur sichtbar, wenn sie sich bewegten, weil sie chamäleonartig mit dem Hintergrund verschmolzen, sobald sie stehen blieben. Und es gab muskelbepackte Raubkatzen mit beeindruckenden Reißzähnen, die an die prähistorischen Katzen erinnerten, nach deren Vorbild auch Tatyana gebaut worden war.
Die Größte von ihnen allen war die Königin der Katzen. Sie hatte große Ähnlichkeit mit einem Panther und ruhte majestätisch wie eine schwarze Sphinx vor dem Wasserbassin. Ihre großen Mandelaugen glänzten tiefschwarz, schwärzer noch als ihr Fell, und sie war von oben bis unten mit kostbarstem Geschmeide behange n – Ohrringen, Ketten und klirrenden Reifen. Es wirkte, als würde sie eine prächtige Rüstung
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