Hawks, John Twelve - Dark River
Balkone. Ein verbogenes, eisernes Markisengestell krümmte sich über den zerbrochenen Tischen eines ehemaligen Straßencafés. Gabriel hatte Städte wie diese in Filmen und Zeitschriften gesehen. Sie wirkte wie die Provinzhauptstadt eines tropischen Landes – wie einer jener Orte, an denen die Leute den Tag am Strand verbringen und erst spät zu Abend essen.
Nun waren alle Fenster geborsten und die meisten Türen aus den Angeln gerissen. Ein verschnörkelter, schmiedeeiserner Balkon, der nur noch von wenigen Schrauben gehalten wurde, hing an der Seite eines Hauses wie ein lebendiges Wesen, das den Sturz auf die Straße verhindern will. Alle Wände waren mit Graffiti beschmiert. Gabriel las Zahlen, Namen und ganze Wörter in Blockschrift. Ungelenk gemalte Pfeile wiesen auf irgendwelche unbekannten Ziele hin.
Pickering suchte in einem weiteren Haus Deckung, tastete sich aber behutsam vor. Ein paarmal blieb er stehen, um zu lauschen, und er ging erst weiter, wenn er sich davon überzeugt hatte, dass sie allein waren. Gabriel folgte ihm eine Marmortreppe hinauf und in ein Zimmer, wo eine halbverkohlte Matratze an der Wand lehnte. Pickering schob die Matratze zur Seite, und ein Durchgang erschien. Sie betraten ein Zimmer, dessen Fenster mit Sperrholzplatten abgedeckt waren. Das einzige Licht kam von einer Gasflamme aus einer Kupferleitung, die jemand aus der Wand gerissen hatte.
Während Pickering die verkohlte Matratze wieder vor den Eingang zog, sah Gabriel sich im Zimmer um. Es war voller Abfall, den Pickering bei seinen Erkundungsgängen durch die Stadt aufgelesen hatte. Da waren leere Glasflaschen, ein Stapel muffiger Decken, ein grüner Polstersessel mit nur zwei Beinen und mehrere gesprungene Spiegel. Zuerst dachte Gabriel, die Tapete hänge in Fetzen von der Wand, aber dann entdeckte er, dass Pickering Seiten aus einem Schnittmusterkatalog an die Wände geklebt hatte. Die Frauen auf den verblichenen Zeichnungen trugen bodenlange Kleider und hochgeschlossene Blusen wie vor hundert Jahren.
»Hier wohnst du?«
Pickering starrte auf die Zeichnungen an der Wand und sagte ohne jede Spur von Ironie: »Hoffentlich finden Sie es gemütlich, Sir. Trautes Heim, Glück allein.«
»Hast du immer schon in diesem Haus gewohnt? Wurdest du hier geboren?«
»Wie heißt du, mein Freund? Kannst du mir das sagen? Freunde sollten sich mit Namen ansprechen.«
»Gabriel.«
»Setz dich, Gabriel. Du bist mein Gast. Bitte, nimm Platz.«
Gabriel setzte sich in den Sessel. Der grüne Bezug roch modrig und abgestanden. Pickering schien erfreut und nervös zugleich, einen anderen Menschen bei sich zuhause zu haben. Wie eine eifrige Haushälterin wurde er nicht müde, durch den Raum zu laufen, den Müll aufzusammeln und zu ordentlichen kleinen Stapeln aufzutürmen.
»Niemand ist auf der Insel geboren. Wir alle sind eines morgens plötzlich hier aufgewacht. Wir hatten Wohnungen und Kleider und Essen im Kühlschrank. Wir haben auf einen Schalter gedrückt, und das Licht ging an. Wir haben an einem Hahn gedreht, und Wasser kam aus der Leitung. Wir hatten auch Arbeit. Auf meiner Schlafzimmerkommode lagen die Schlüssel zu einem Laden, der nur wenige Straßen von hier entfernt lag.« Pickering lächelte selig, und die Erinnerung überwältigte ihn beinahe. »Ich war Mr. Pickering, der Damenausstatter. In meinem Laden lagerten Ballen der edelsten Stoffe. Ich war kein gewöhnlicher Schneider, das war klar.«
»Und du hast dich nie gefragt, warum du hier bist?«
»Jener erste Morgen war magisch, denn ein paar Stunden lang waren alle überzeugt, an einem ganz besonderen Ort gelandet zu sein. Die Leute haben die ganze Insel erkundet, sie haben die unterschiedlichen Häuser und die eingestürzte Brücke inspiziert.« Zum ersten Mal entdeckte Gabriel einen Hauch von Gefühl und Verstand hinter Pickerings Angst. »Und was für ein glücklicher Tag das war, Gabriel! Du weißt gar nicht, wie glücklich. Denn wir haben alle gedacht, wir wären an einem wundervollen Ort. Einige waren sogar der Ansicht, wir wären ins Paradies befördert worden.«
»Kannst du dich an deine Eltern oder an deine Kindheit erinnern?«
»Meine persönliche Erinnerung beginnt an diesem ersten Tag hier. Ein paar Träume. Das ist alles. Alle hier können schreiben und rechnen. Wir können mit Werkzeug umgehen und Auto fahren. Aber niemand kann sich daran erinnern, diese Fähigkeiten erlernt zu haben.«
»Dann wurde die Stadt nicht an jenem ersten Tag
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