Hawks, John Twelve - Dark River
zerstört?«
»Natürlich nicht.« Pickering sammelte ein paar leere Weinflaschen ein und reihte sie an der Wand auf. »Es gab Strom. Alle Autos waren vollgetankt. Am Nachmittag redeten die Leute davon, eine Regierung auf die Beine zu stellen und die Brücke zu reparieren. Von den Hausdächern aus konnte man sehen, dass die Insel mitten in einem gewaltigen Fluss liegt. Das nächste Ufer ist nur ein paar Kilometer entfernt.«
»Und was ist dann passiert?«
»Am selben Abend gingen die Kämpfe los. Ein paar Männer haben sich geprügelt und getreten, während der Rest von uns zuschaute wie Kinder, die ein neues Spiel lernen. Bis zum Morgengrauen hatten alle mit dem Töten angefangen.« Pickering schien geradezu stolz auf sich zu sein. »Selbst ich habe einen Mann umgebracht, der in meinen Laden einbrechen wollte. Mit meiner Schere habe ich ihn getötet.«
»Aber warum haben die Menschen ihre eigenen Häuser zerstört?«
»Die Stadt wurde in Sektoren aufgeteilt, die von verschiedenen Bandenchefs regiert wurden. Es gab Kontrollpunkte und Grenzen und Todesstreifen. Das hier war lange Zeit der Grüne Sektor. Ein Mann namens Vinnick war unser Anführer, bis sein Stellvertreter ihn umbrachte.«
»Wie lange haben die Kämpfe angedauert?«
»Auf der Insel gibt es keine Kalender, und alle Uhren wurden zerstört. Früher haben die Leute die Tage gezählt, aber dann meldeten sich andere Gruppen mit anderen Zahlen, und dann stritten sie natürlich darum, wer Recht hatte. Eine Zeit lang waren wir aus dem Grünen Sektor mit dem Roten Sektor verbündet, aber dann haben wir einen heimlichen Bund geschlossen und die Roten an die Blauen verraten. Am Anfang hatten die Leute Pistolen und Gewehre, aber dann ging ihnen die Munition aus, sodass sie eigene Waffen bauen mussten. Schließlich kamen die Bandenchefs um, und ihre Privatarmeen lösten sich auf. Jetzt haben wir einen Verwalter, der regelmäßig die Patrouille aussendet.«
»Aber warum konntet ihr euch nicht irgendwie einigen?«
Pickering lachte drauflos, dann zog er ein verängstigtes Gesicht. »Ich wollte nicht unhöflich sein, Sir. Mein Freund Gabriel, meine ich. Sei nicht böse. Die Frage kam nur so … unerwartet.«
»Ich bin nicht böse.«
»Zu Zeiten der Bandenchefs behaupteten manche Leute, die Kämpfe würden weitergehen, bis eine bestimmte Anzahl von Überlebenden erreicht wäre. Wir stritten um die Zahl. Würden es neunundneunzig Überlebende sein oder dreizehn oder drei? Niemand weiß das. Aber wir glauben, dass diese Überlebenden einen Weg finden werden, diesen Ort zu verlassen. Alle anderen werden wiedergeboren, um von Neuem zu leiden.«
»Und wie viele Menschen sind übrig?«
»Ungefähr zehn Prozent der ursprünglichen Bevölkerung. Einige von uns sind Kakerlaken. Wir verstecken uns hinter Wänden und unter Fußböden – und überleben. Wer sich nicht versteckt, wird ein Wolf genannt. Die Wölfe patrouillieren durch die Stadt und töten jeden, den sie sehen.«
»Und deswegen versteckst du dich?«
»Ja!« Pickering sah zuversichtlich aus. »Ich kann dir mit Sicherheit versprechen, dass die Kakerlaken die Wölfe überdauern werden.«
»Hör mal, dies ist nicht mein Krieg, und ich möchte mich auf niemandes Seite stellen. Ich will einen anderen Besucher finden. Das ist alles.«
»Ich verstehe.« Pickering wuchtete ein gesprungenes Waschbecken hoch und schaffte es in eine Zimmerecke. »Aber nimm meine Einladung an. Bleib hier, während ich mich auf die Suche nach dem anderen Besucher mache. Bring dich nicht in Gefahr, mein Freund. Wenn eine Patrouille dich findet, werden die Wölfe dich auf offener Straße umbringen.«
Noch bevor Gabriel antworten konnte, hatte Pickering die verkohlte Matratze beiseitegeschoben. Er schlüpfte durch die Öffnung und schob die Abdeckung wieder an ihren Platz. Gabriel blieb im Polstersessel sitzen und dachte über all das nach, was passiert war, seit er am Flussufer die Augen aufgeschlagen hatte. Die gewaltbereiten Seelen dieser Sphäre würden für immer im endlosen Kreislauf aus Wut und Zerstörung gefangen sein. Aber an dieser Hölle war nichts Besonderes. Er hatte in seiner eigenen Welt schon einen Vorgeschmack auf den Hass bekommen, der hier regierte.
Die Gasflamme, die aus dem dünnen Kupferrohr kam, schien den gesamten Sauerstoff im Raum zu verbrauchen. Gabriel schwitzte, und sein Mund war ausgetrocknet. Er wusste, dass er an diesem Ort kein Essen anrühren durfte, aber er musste etwas zu trinken
Weitere Kostenlose Bücher