Heartbreak-Family – Als meine heimliche Liebe bei uns einzog (German Edition)
ließ. Meine Oma tat immer, was sie wollte und wann sie es wollte.
So stieg sie zwei Stunden später auf ihren grün-glitzernden Bock und kurvte mit laut knatterndem Motor davon. Im Bauchnabel den Skorpion, den sie sich begeistert durch ihr Piercing gezogen hatte. In der Tasche die Visitenkarte von Professor Pfister, der erst fasziniert vor ihrer Maschine und dann noch faszinierter vor ihr selbst gestanden hatte.
26
Schokoküsse in stiller Nacht
Mit der Nase in Kens Shirt lief ich durchs Zimmer und suchte meine Sachen. Es roch gar nicht mehr richtig nach ihm. Vielmehr nach mir. Ich brauchte dringend ein frisches.
Strumpfhose, kurzer Rock und Stulpen. Und was drüber? Pulli? Bluse? Top? Oder doch lieber das Kleid? Unschlüssig stand ich vor dem Spiegel und warf eins nach dem anderen aufs Bett. Kens Shirt verschwand unter dem Stapel. Was denn nun?
Es klopfte. »Wie weit bist du, Jannah?«, fragte meine Mutter durch die geschlossene Tür. »Es geht gleich los.«
»Ja, ja«, rief ich zurück. »Bin fast fertig.«
Ich schlüpfte in das schlichte dunkelblaue Kleid und betrachtete mich. Der Ausschnitt war ziemlich tief, aber ich trug etwas darunter, und außerdem passte meine Teufelin perfekt dazu.
Ich kämmte meine Haare und ließ sie über die Schultern fallen. »Nicht schlecht, Kismet«, zwinkerte ich meinem Spiegelbild zu. »Gar nicht schlecht.«
»Ey, Shetani!« Merrie guckte ohne anzuklopfen ins Zimmer. »Wo bist du denn? Der Käse schmilzt … uups!« Sie zog überrascht eine Augenbraue hoch. »Das sieht ja … gar nicht schlecht aus!«
Ich lachte. »Hab die Stylistin gefeuert.«
»Gut«, schmunzelte Merrie. »Kommst du?«
»Yep!« Nach einem letzten Blick in den Spiegel folgte ich Merrie ins Wohnzimmer. Sie war ganz in Weiß gekleidet und wirkte mit ihrer stolzen Haltung, der braunen Haut und der Perlenkette wie eine afrikanische Prinzessin. Gesagt hätte ich ihr das natürlich nicht, auch wenn Heiligabend war. Man musste ja nicht gleich übertreiben.
Ken hantierte mit Streichhölzern und Zeitungspapier am Kamin, als wir reinkamen. Er sagte nichts, doch sein anerkennender Blick war mein erstes Weihnachtsgeschenk.
Sepp zündete die Kerzen auf der festlich gedeckten Tafel an. Wir alle hatten am Vormittag in der Wohnung geräumt, geputzt und geschmückt, den Tannenbaum aufgestellt und mit allem versehen, was unsere Weihnachtskiste hergab. Am Nachmittag waren wir in die Gospelkirche zum Gottesdienst gegangen. Meine Mutter und ich freuten uns jedes Jahr darauf, obwohl wir ja weder getauft noch gläubig waren. Aber der Gospelchor, die Lieder, die ganze Stimmung war so schön feierlich und gleichzeitig so fröhlich und mitreißend, dass es für uns untrennbar zu Weihnachten gehörte. Mit Sepp, Ken und Merrie waren wir nun zum ersten Mal alle zusammen dort. Und zum ersten Mal hatte ich den Chor aus weißen und farbigen Sängern bewusst wahrgenommen, die eine Mischung aus afrikanischen und westlichen christlichen Liedern sangen. Darauf hatte ich früher nie geachtet. Nur unsere Türken fehlten noch.
Merrie und meine Mutter hatten gesungen, Sepp auch ein bisschen. Ken hatte gebrummt, und ich stimmte beim Refrain ein oder wenn ich die Textzeile konnte. Viel zu schnell war das Konzert zu Ende, und wir hatten uns auf den Heimweg gemacht. Sepp und meine Mutter gingen vor Merrie und mir und Ken hinter uns. Zufrieden sah ich in den dunkel verhangenen Abendhimmel.
Und auf einmal kamen sie. Ganz sachte, ganz zart schwebten die ersten Flöckchen herab und legten sich auf unsere Jacken und Mützen. Kismet. Vergissmeinnichtblau mit einem zauberhaften Glitzern. Das war Kismet. Niemand sagte etwas, und doch spürte ich, wie sehr jeder von uns diesen Moment genoss. Ich sah es in unseren Gesichtern, in unseren Augen und in unserem leichten Gang. In der Bewegung der Hand, die meine Mutter nach den Eiskristallen ausstreckte. In dem Blick, den ihr Sepp dabei zuwarf.
Im Licht der Straßenlaternen stoben immer dickere Flocken vom Himmel herab. Immer mehr. Wenn ich länger hinsah, kam ich mir vor wie bei einem Flug durchs Weltall, mit wirbelnden Sternen. Ganz nah und doch unberührbar. So wie es sein musste. Manches konnte man einfach nicht greifen, nicht festhalten. Manches musste man einfach so lassen, wie es war. Man konnte es betrachten, sich daran erfreuen, aber nicht in Besitz nehmen.
Nach dem Essen zündeten wir die Kerzen am Baum an und setzten uns vor den Kamin. Nur meine Mutter hatte sich auf dem Sofa
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