Heaven - Stadt der Feen
spähte vorsichtig zum Haus hinüber, das bestimmt gut dreihundert Meter weiter in dem parkartigen Gelände lag. Er hatte keine Lust, dass ihn dieser ominöse Butler in ein Gespräch verwickelte. Aber nichts regte sich hinter den düsteren Fenstern.
David mied die Einfahrt, die vom Haus nur zu gut einsehbar war, und schlängelte sich zwischen den Bäumen und Sträuchern hindurch. Je weiter er kam, desto merkwürdiger wurde die Atmosphäre dieses Ortes. Die hohen Bäume waren kahle Gerippe, doch die dichten Hecken ließen keine Blicke durch.
Im Sommer musste es hier wunderschön sein, so schön, dass man die Ruhe fast anfassen konnte. Und das Frühjahr würde diese versteckte Welt in einen Ort voll Magie und Zauber verwandeln.
Er musste an Edith Nesbit denken, seine Mutter hatte ihm immer vorgelesen, als es ihr noch besser ging. Geraldine dagegen, die fünf Jahre jünger war als er, wusste wahrscheinlich noch nicht einmal, wer Edith Nesbit war.
Das schlechte Gewissen war sofort wieder da, unwillkürlich biss er die Zähne zusammen und fing schneller an zu laufen, und einige Momente später wusste er nicht mehr, wie er eben auf Zauber und Magie gekommen war.
Hey, es war Mitte November. Es war kalt, feucht und eben hatte es wieder angefangen zu nieseln. Der Rasen war matschig, Laub knirschte da und dort unter seinen Turnschuhen.
David versuchte sich vorzustellen, wie Heaven als kleines Kind hier gespielt hatte. Wieder einmal fiel ihm auf, dass er all das hier tat für ein Mädchen, das er überhaupt nicht kannte.
David war immer schon ein vorsichtiger Mensch gewesen. Er traute den Menschen nicht. Die Sache mit Kelly hatte ihm wieder mal gezeigt, wie leicht man auf die Schnauze fallen konnte. Auch seiner Schwester hatte er vertraut, doch sie hatte ihren eigenen Weg gewählt. Vertraue niemandem je etwas an, denn sie könnten einem sonst irgendwann alle fehlen. J. D. Salinger hatte es erkannt!
Aber mit Heaven war es etwas anderes. Er vertraute ihr. Und sie brauchte ihn.
Inzwischen war er fast vor dem Haupthaus angelangt. Die trutzigen Mauern glänzten im Nieselregen, der wie ein Schleier über alldem hing. Die spitzen Türme und Erker gaben dem Anwesen ein Gesicht, das streng und hart dem Tag entgegenblickte.
»Hier bist du also daheim«, flüsterte David.
Fast schon erwartete er, die rauchige Stimme Heavens zu hören. Doch da waren nur Stille und die Geräusche des fernen Verkehrs. Irgendwo krächzte ein Rabe.
Endlich sah er den Briefkasten, dezent neben der Einfahrt, als müsse man so etwas Gewöhnliches verbergen, ein schmaler Kasten, dunkelgrün wie die Hecke, die ihn umgab.
David kramte in seiner Tasche nach dem Zettel, den Heaven sorgsam in einen Briefumschlag gesteckt hatte. Er hatte ihr dabei zugesehen, wie sie mit ihrer schwungvollen Handschrift eine Botschaft auf ein Blatt Papier geschrieben hatte.
Mir geht’s gut, keine Sorge
.
Das war die ganze Botschaft an besagten Mr Mickey.
»Ist das alles?«, hatte David gefragt.
»Er wird es verstehen.«
David warf einen letzten Blick auf das Haus. Ein Stern zierte die massive Eingangstür, geschnitzt in das dunkle Holz.
Die Bewegung sah David aus den Augenwinkeln.
Unmittelbar danach machte er die Gestalt aus.
Instinktiv sprang er hinter die Hecke und duckte sich. Er hielt die Luft an, wagte es nicht zu atmen. Sein Herz pochte laut und er hatte das Gefühl, dass allein sein Herzschlag ihn verraten würde. Still und heimlich fluchte er alle Flüche, die ihm gerade einfielen.
Warum hatte er den Kerl nicht schon früher gesehen? Scheiße, wie hatte er nur so dämlich sein können!
Er atmete tief durch, hielt sich die Hände vor den Mund, pustete warme Luft hinein, atmete erneut durch. Dann spähte er vorsichtig an der Hecke vorbei. Sofort zog er den Kopf wieder zurück.
Verdammt, verdammt, verdammt.
David hätte sich selbst ohrfeigen können. Wie lange war es her, dass er Heaven erklärt hatte, dass diese Typen bestimmt wussten, wo sie wohnte? Nicht mal zehn Stunden.Und was tat er? Er hatte nichts Besseres zu tun, als denen genau in die Arme zu rennen!
Die Gestalt am Haus war eindeutig der seltsame Kerl, der den Mann mit den schwarzen Handschuhen begleitet und der David an seinen toten Großvater erinnert hatte. Er stand dort unter den leer glänzenden Fenstern, wie er auf dem Bahnsteig in der Kensington High Street gestanden hatte.
Wie jemand, der eigentlich tot ist, schoss es David durch den Kopf. Bei dem Gedanken spürte er, wie eine Gänsehaut
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