Heaven - Stadt der Feen
eigentlich nicht, was ich dir erzählen wollte. Es geht um etwas ganz anderes. Als mein Vater beerdigt wurde, war ich zum ersten Mal in meinem Leben auf dem Highgate-Friedhof.«
»Du warst vorher nie am Grab deiner Mutter?«
»Nein.« Ihre Stimme wurde zu Stein.
»Aber warum?« Die Frage kam ganz spontan.
»Darum«, entgegnete sie, fast patzig. Dann fasste sie sich und meinte: »Es gab da einen Brief, den meine Mutter geschrieben hatte, damals, als sie mit mir schwanger gewesen ist.«
Aus den Lautsprecherboxen, die versteckt in den Winkeln der Decke hingen, erklang Thea Gilmore.
»Wenn du an mich denkst, dann sieh in den Himmel hinauf.«
»Klingt für meinen Geschmack reichlich verkitscht«, sagte er. Im gleichen Moment biss er sich auf die Zunge, doch es war zu spät. Die Worte waren heraus. »Tut mir leid«, murmelte er verlegen. »Ich wollte dich nicht verletzen.«
Doch zu seiner Überraschung lächelte sie kurz, es war wie das Aufblitzen der Sternschnuppe, die David gestern beobachtet hatte. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Duhast ja recht.« Ihre Finger trommelten den Takt des Liedes auf den Tisch. »Jedenfalls wollte ich nie auf den Friedhof gehen. Ich mag keine Friedhöfe. Ich mag keine Orte, an denen so viel Tod lebt. Ich hatte ein Foto von ihrem Grab, das war genug.«
David erinnerte sich an das Bild. Er hatte es auf dem Hausboot gesehen.
»Mein Vater«, fuhr sie fort, »wurde im Familiengrab beigesetzt und das war der einzige Tag, an dem ich jemals in Highgate gewesen bin.« Sie leerte die Tasse mit einem Schluck und stellte sie mit einem Knall auf den Tisch. »Es hat geregnet. Auf jeder richtigen Beerdigung sollte es regnen. Es ist nicht richtig, wenn man sich im Sonnenschein von jemandem verabschieden muss. Es waren so viele Leute da. Anzugträger, Typen wie Mr Sims, mein Vormund. Gesichter, die ich nie zuvor gesehen hatte. Sie trugen alle dunkle Schirme und manche hatten Sonnenbrillen auf.« Heavens olivfarbene Haut nahm einen dunkleren Ton an, sie wirkte auf einmal wütend. »Sie alle trauerten, dabei haben sie ihn überhaupt nicht gekannt.«
David fragte sich, worauf sie hinauswollte.
»In seinem Nachlass befand sich ein Brief an mich. Er hatte ihn schon Jahre zuvor geschrieben und eigentlich war es nur ein einziger Satz.« Sie rieb sich die Augen. »Du kannst uns immer besuchen!« Sie schaute auf. »Das war es, was in dem Brief stand. Sonst nichts.«
»Du kannst uns immer besuchen?«
»Ich habe die ganzen letzten Stunden darüber nachgegrübelt, was mit mir passiert ist. Was mit mir los ist.« Sie fingerte an den Bierdeckeln herum, die auf dem Tisch lagen,und zerbröselte sie langsam und akribisch. »Aber plötzlich musste ich an den Brief denken und an diesen einen Satz, an den ich all die letzten Jahre nicht mehr hatte denken müssen, weil er keinen Sinn ergab.« Sie rieb sich die Augen. »Meine Eltern sind beide tot und es gibt keinen Grund, weshalb ich sie besuchen sollte. Sie können nicht mehr mit mir reden, weil sie nicht mehr da sind. Aber wenn doch etwas hinter diesem Satz steckt, dann deutet er auf Highgate hin.« Sie stockte. »Oder dreh ich jetzt völlig durch?« Hilfe suchend blickte sie David an und griff nach seiner Hand. Ihre Finger fühlten sich so kalt wie Eiswürfel an, brennend vor Kälte, aber merkwürdigerweise tat die Berührung gut.
Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das glaube ich nicht.«
»Also kommst du mit? Bitte?«
Es sah auf ihre Hände, die verschlungen auf dem Tisch lagen. Er nickte. »Kein Problem.«
»Tut mir leid, dass ich dich da mit reinziehe«, flüsterte sie und ihr Blick streifte nervös den Schnitt an seinem Hals. Ihre Stimme war rau. »Wahrscheinlich ist es verrückt und überflüssig und außerdem hab ich mir geschworen, dorthin nie wieder zurückzukehren, nach dieser Beerdigung mit den Männern in Sonnenbrillen, und die Frauen hatten alle Hüte auf, weißt du, ich hab noch nie so viele . . .«
David ergriff ihre andere Hand, zog sie nah zu sich heran. »Heaven«, sagte er ruhig. »Wir können überall hingehen.«
Sie brach ab und sah ihn an. Dann breitete sich dieses Lächeln auf ihrem Gesicht aus, das Heaven war, erst langsam, dann strahlend.
Schweigsam saßen sie eine Weile da. Die kalte Zugluft von draußen schlug ihm ins Gesicht.
»Von dir weiß ich auch nichts«, sagte Heaven mit einem Mal.
David antwortete nur: »Stimmt.«
»Du kommst aus Cardiff.«
Nicken.
»Und du magst die U-Bahn nicht.«
Erneutes
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